Weiblich, 42, Autistin: Wieso Frauen bei Neurodivergenz lange übersehen wurden
Der schwedischen Autorin Clara Törnvall wurde erst mit 42 Jahren Autismus diagnostiziert. Sie ist nicht die einzige Frau mit später Diagnose. In ihrem Buch "Die Autistinnen" spricht sie ein Dilemma an, das auch auf Österreich zutrifft.
Clara Törnvall hat sich ihr Leben lang anders gefühlt. Sie kann nicht zwischen den Zeilen lesen. Sie nimmt Dinge zu wörtlich. Sie redet am liebsten nur über ein Thema, springt nicht gerne zwischen verschiedenen hin oder her. Sie kann nicht gut in die Augen schauen. Zu all dem kommt eine ständige, lähmende Angst.
Schon als sie dann im Wartezimmer des Psychologen stand, wusste sie, dass sie richtig war. Eine Frau stand an der Rezeption und wollte für ihre Einheit bezahlen. „Rechnung?“, fragte der Mann an der Rezeption. Die Frau blickte ihn verwirrt an: „Ob ich eine brauche?“. In Törnvall stieg eine Glücksblase auf. Hier, dachte sie erleichtert, gibt es Menschen wie mich.
Späte Diagnose
Einige Monate später - beschreibt die schwedische Kulturjournalistin in ihrem neuen Buch "Die Autistinnen" (Hanser Verlag) - erhält sie vom Psychologen, zu dem das Wartezimmer gehört, die Diagnose: Autismus ohne einhergehende intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung.
Törnvall ist zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre alt und reiht sich damit in eine immer länger werdende Liste von Frauen ein, die als Erwachsene erkennen, dass sie Autistinnen sind. Die britische Kabarettistin Sarah Gibbs war 30. Die österreichische Künstlerin Simone Dueller 38.
Reize anders wahrnehmen
Autismus ist eine Form von Neurodivergenz, bei der die Reize aus der Umwelt im Gehirn anders verarbeitet werden. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass rund ein Prozent der Bevölkerung Autismus hat. „Dazu gibt es aber eine große Dunkelziffer“, ergänzt Iris Koppatz von der Österreichischen Autistenhilfe. Menschen, deren Auffälligkeiten geringer oder atypisch sind, und somit nie eine Diagnose erhalten haben. Viele davon sind Frauen. Laut einer Studie der Universität Swansea erhalten Mädchen und Frauen ihre Diagnose sogar im Schnitt sechs Jahre später als Buben oder Männer.
Aber warum ist das so? „Zum einen“, meint die Wiener Psychotherapeutin Beá Pall vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie, „werden Frauen anders sozialisiert. Sie lernen sich an die Gesellschaft anzupassen, selbst wenn das bedeutet nicht authentisch zu sein.“
Die Fassade der Frauen
Auch Törnvall hatte ihre Fassade perfektioniert. Gelernt, ihre Verwirrung zu verstecken, wenn es ihr wieder einmal nicht gelingt zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Wut hinunterzuschlucken, wenn andere sie nicht verstehen, oder ihre Ungeduld, wenn sie etwas wiederholen muss. Hat akzeptiert, dass sie nur mit Sonnenbrille und Kopfhörer unterwegs sein kann, weil ihr sonst Lärm und Licht zu schaffen machen.
Und doch wurden das Gefühl, anders zu sein, und die ständige Angst immer wieder zu viel. Seit ihrem 18. Lebensjahr hat sie sechs Einzel- und drei Paartherapien besucht, Antidepressiva genommen und einen Tag in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie verbracht. Dann fand sie den Weg zur Autismus-Diagnostik.
Fragen nach Autos und Eisenbahnen
In dem Fragebogen, den die Schwedin von ihrem Psychologen erhält, muss sie beantowrten, ob ihr Kfz-Nummern auffallen oder sie gerne Eisenbahnmodelle sammelt. Das ärgert Törnvall. Die Fragen sind eindeutig auf Männer zugeschnitten. Der Psychologe sagt, sie soll sich einfach ein anderes Interesse vorstellen, das Wort „Auto“ durch „Musik“ ersetzen. Das ärgert Törnvall noch mehr. „Schließlich nehmen Autistinnen immer alles wörtlich.“
Fragebögen, meint Koppatz, sind bei der Autismus-Diagnostik zwar generell mit Vorsicht zu verwenden; jedenfalls müssen die Antworten mit der Klientin besprochen werden. Und doch räumt sie ein, dass es bis vor kurzem einen Bias in den Instrumenten gab. „Man hat nach einer männlichen Ausprägung des Autismus gesucht.“ Und so haben die österreichische die britische Kinderbuchautorin Beatrix Potter oder die Halbschwester von Viriginia Woolf ihre Diagnosen vielleicht nie erhalten.
Es war in gewisser Weise eine selbsterfüllende Prophezeiung. Weil die Instrumente auf männliche Symptome ausgelegt waren, wurden mehr Männer mit Autismus gefunden. Einst ging man sogar davon aus, dass auf 10.000 Autisten etwa fünf Autistinnen kamen. „Das hat sich in den letzten Jahren aber stark relativiert“, sagt Koppatz. Heute hätte sich das Verhältnis nahezu ausgeglichen.
Das Bild des Nerds
Doch derzeit, argumentiert Törnvall, denke man bei einem Autisten weiter schnell an einen „blutleeren Gamer“, der selten das Haus verlasse, den Rubiks Cube in Sekundenschnelle lösen und aus dem Stegreif über die Kreidezeit referieren könnte. Weniger an eine Frau, die zwar eine Doktorarbeit schreiben kann, aber immer wieder neu überlegen muss, wie man eigentlich eine Scheibe Brot abschneidet.
Um das zu ändern, meint Beá Pall, braucht es vor allem Toleranz und Empathie. Und das beginne bereits im eigenen Freundeskreis. „Wenn eine Freundin oder ein Freund“, sagt Pall, „auf einer Party zum Beispiel eine Panikattacke bekommt, dann sollte man die damit verbundene Angst nicht kleinreden.“ Es helfe dann also nicht zu sagen: „Oh, das kann ja nicht so schlimm sein.“ Sondern: „Wie kann ich dir am besten helfen?“
Ängste zu haben, ist kein Zeichen von Schwäche. Über Ängste zu sprechen, noch viel weniger.
Bücher zum Thema
Die Autistinnen
Clara Törnvall ist Kulturjournalistin in Schweden.
In ihrem Buch „Die Autistinnen“ (Hanser Verlag) gibt sie nicht nur persönliche Einblicke in ihren eigenen Weg zur Autismus-Diagnose und bespricht berühmte (mögliche) Autistinnen wie Elfriede Jelinek oder die britische Kinderbuchautorin Beatrix Potter, sondern debattiert auch das gesellschaftliche Ungleichgewicht.
Auf Englisch gibt es bereits ein weiteres Werk: „An Autist´s Guide to the Galaxy“ (Scribe) eine humorvolle Anleitung für Menschen mit Autismus, um die NTs, die Neurotypischen besser zu verstehen.
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