Dirk von Lowtzow: "Von Tag zu Tag ein bisschen ratloser"
Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow erzählt in seinem Tagebuchroman "Ich tauche auf" von einem Jahr des äußeren Stillstands und des inneren Aufruhrs. Ein Gespräch über überwundene und neue Krisen.
22. November 2020, Berlin:
„Ich habe mir gestern mattschwarzen Nagellack von Chanel (Boy) gekauft und heute gleich aufgetragen. Sieht bestimmt super aus auf der Bühne, denke ich.
Aber welche Bühne?
Mein Sofa.
Und welches Publikum?
Meine Stofftiere.“
Diese Zeilen stammen von Dirk von Lowtzow. Der Sänger der deutschen Kult-Band Tocotronic hat nach „Aus dem Dachsbau“ (2019) soeben sein zweites Buch veröffentlicht. Es heißt „Ich tauche auf“ (KiWi) und dokumentiert seine ganz persönlichen Lockdownzeiten. Der 51-Jährige dokumentiert darin ein „trauriges Jahr“ und gewährt auf 213 Seiten Einblicke in seinen Pandemie-Alltag. Es sei aber nicht nur ein Corona-, Sorgen-, Rückenschmerzen- und Liebestagebuch, sondern schildere auch den Produktionsprozess zum letzten Album „Nie wieder Krieg“ inklusive aller „Irrsale und Zweifel, die dabei im eigenen Kopf entstehen“, sagt der Wahl-Berliner im Gespräch.
Dirk von Lowtzow: Vornehmlich ging es mir um ein Ordnungsprinzip und um eine tägliche Übung. In diesen täglichen Übungen, oder Exerzitien, liegt natürlich auch ein gewisser Trost und sie haben bisweilen eine angstlösende Wirkung.
Es hat mich damals gewundert und wundert mich immer noch, wie oft im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie von den schlimmen „Lockdowns“ und den „Maßnahmen“ gesprochen wurde (und bis heute wird), auch in der lästigen Debattenform, wie selten hingegen der doch beträchtlichen Anzahl von Toten gedacht wurde und wird. Hier scheint mir doch eine ziemliche Verdrängung vorzuliegen und ein Mangel an Demut und Mitgefühl.
Solidarität.
Ich bilde mir ein, dass sich meine Rückenschmerzen in der Pandemie noch verstärkt haben. Andererseits hatte ich vielleicht auch mehr Zeit, manisch auf meine körperlichen Zipperlein zu achten und beständig in mich hineinzuhorchen.
Ich hatte vornehmlich Angst um die Gesundheit meiner Eltern und Nichten, Neffen und einiger anderer vulnerablen Personen in meinem Freundeskreis, nicht so sehr um mich. Wie viele Menschen, die in ihrem normalen Alltag ohnehin oft mit sogenannten frei flottierenden Ängsten konfrontiert sind, konnte ich die konkrete Angst vor dem Virus erstaunlich gut verarbeiten. Jetzt ist zwar die Pandemie vorbei, oder nicht mehr relevant, dafür herrscht in Europa Krieg.
Von Tag zu Tag ein bisschen unsicherer und ratloser.
Wir hatten in den Interviews zum Album, die wir im November und Dezember 2021 geführt hatten, oft davon gesprochen, dass wir uns möglicherweise in vorkriegsartigen Zeiten befänden, und dabei den deutschen Literaturwissenschaftler Joseph Vogl zitiert. So wie er hatten wir diese Aussage aber eher auf die allgemeine Ökonomisierung und Monetarisierung von Ressentiments bezogen, nicht so sehr auf den bevorstehenden mörderischen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Erschreckend zu sehen, wie sehr die Realität das eigene Raunen einholen kann.
Nichts und Nein.
Nikotin.
Meine Freundin Sophie Hunger hat mir einmal gesagt, Bob Dylan habe einmal gesagt, man solle niemals als Musiker*in die eigenen Songs interpretieren. Wer bin ich, der ich es wagen würde, ihr und einem Nobelpreisträger zu widersprechen?
Zur Person: Dirk von Lowtzow gründete 1993 in Hamburg die Rockband Tocotronic gemeinsam mit Arne Zank und Jan Müller. 2022 legten sie mit "Nie wieder Krieg" ihr 13. Album vor
Buch und Lesung: „Ich tauche auf“ ist ein Sitten- und Stimmungsbild einer Gesellschaft in pandemischen Zeiten. Es sind Texte voller Zweifel, Ängste, Hoffnung und Liebe – mal verstörend ehrlich, mal poetisch verklärt.
Am 21. April liest der 51-Jährige im Wiener Volkstheater aus seinem Buch. Dazu liefert er passende Tocotronic-Songs der vergangenen 30 Jahre.
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