Von den Swifties zu Lisztomanie: Die Erkundung eines Phänomens

Die "Swifties“ wecken Erinnerungen an die Beatlemania der 1960er-Jahre. Doch die Geschichte der Fan-Euphorie führt viel weiter in die Vergangenheit.

Regel Nummer eins: Komme nur ins Zelt, wenn du Zeit hast; jede hat schließlich Verpflichtungen. Regel Nummer zwei: Aber wenn du deinen Platz im Zelt nicht verlieren möchtest, musst du 60 Stunden und eine Nacht pro Monat hier sein.

Fünf Monate lang haben Dutzende Taylor-Swift-Fans in Argentinien Ameisen, Regen und Beschimpfungen von Anrainern getrotzt und vor dem River Plate Stadium ihre Zelte aufgeschlagen, berichtete das Magazin Pitchfork. Denn sie wollten beim Konzert Anfang November nicht nur dabei sein, sondern wollten ganz vorne mitfiebern.

Das ist doch unmöglich?

Nicht wenn es um Taylor Swift geht. Im Mai hat Philadelphia, die Heimatstadt des Pop-Stars, durch ihr Konzert das höchste Reiseaufkommen seit Beginn der Pandemie verzeichnet. Und im Juni haben die rhythmisch tanzenden Swift-Fans laut Seismologin Jackie Caplan-Auerback in Seattle ein Erdbeben der Stärke 2.3 ausgelöst. Swifts Eras-Tour (mit der sie im August 2024 auch nach Wien kommt) ist noch nicht einmal zur Hälfte abgeschlossen, machte die Musikerin zur Milliardärin und gilt bereits jetzt als umsatzstärkste Tournee einer Frau aller Zeiten.

Unglaubliche Followerschaft

Aber wie entsteht ein derartiger Hype? Und was hat Swift mit einem Klavierspieler des 19. Jahrhunderts gemeinsam? Taylor Swift ist freilich nicht der einzige Star mit unglaublich kreativer Followerschaft. Die Konzerte von Popstar Harry Styles etwa werden immer mehr zur Modeshow. In jeder Stadt, in der er auftritt, sollen Federboas – inspiriert von den Gucci-Federboas, die er bei den Grammys 2021 trug – ausverkauft sein. Outfits werden monatelange geplant. Und wer sich den bunten Styles-Cardigan um 1.500 Euro nicht leisten kann, häkelt ihn sich einfach selbst.

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Ist das nicht ein sehr hoher Aufwand, den Fans da betreiben? Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie, verneint, denn darum ginge es nicht. „Es hat etwas Sinnstiftendes, Selbstverwirklichendes.“ Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens bietet der Popstar Identifikations- und Projektionsfläche. Dazu kommt die Vorfreude, das Eintauchen in eine verbindende Fangemeinschaft.

Kollektive Hypnose

Es ging auch schon einmal wilder zu. Im Guardian erinnerte sich vor einigen Jahren der 83-jährige Konzertveranstalter Andi Lothian an ein Beatles-Konzert am 5. Oktober 1963 in Schottland: „Die Mädchen fingen an, uns zu überwältigen. Ich sah, wie eine von ihnen fast bis zu Ringos Schlagzeug vordrang, und dann sah ich 40 betrunkene Türsteher, die Gänge hinunterrannten. Ohnmächtige Mädchen, schreiende Menschen, nasse Sitze. Der ganze Saal geriet in eine Art Rauschzustand, fast wie eine kollektive Hypnose. So etwas hatte ich noch nie gesehen.“ Lothian will an diesem Abend den Begriff der Beatlemania aus der Taufe gehoben haben.

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Doch es war nicht das erste Mal, dass das Wort Manie im Zusammenhang mit einem Star fiel. Im April 1844 hielt Heinrich Heine seine Konzerterfahrungen in Paris fest. Das Maß an Aufregung beim Pianisten Franz Liszt, notierte er, sei so groß, es handle sich um eine wahre „Lisztomanie“.

Entfernte Gemeinsamkeiten

Und obwohl zwischen Liszts Klavierkonzert und Swifts Konzerttournee 180 Jahre liegen, sind sich die beiden Künstler gar nicht so unähnlich, meint die Kulturwissenschaftlerin Eva Maria Schörgenhuber von der Universität Wien. „Sie sind beide genial darin, eine Spannung mit dem Publikum zu halten.“ Liszt war nicht nur der erste, der das Format der Solo-Konzerte etablierte, er änderte auch die Position des Klaviers: Er stellte es schräg auf die Bühne, sodass die Zuseher sein Gesicht und seine kunstfertigen Hände sehen konnten – um sich daran zu begeistern. Nähe trotz Distanz. Taylor Swift gelingt wiederum die beeindruckende Meisterleistung, als milliardenschwere Unternehmerin ihren Fans das Gefühl zu geben, sie sei das Mädchen von nebenan, die beste Freundin.

Beide Musiker hatten aber auch das Glück eines neu aufkommenden Mediums, das den Star auf einmal auch außerhalb des Konzerts noch einmal näher zu seinen Fans brachte – bei Liszt in Form der neuen Print-Kultur, bei Swift mithilfe von Social Media.

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Und doch macht Taylor Swift eine Sache rudimentär anders. „Sie hat Fan-Sein salonfähig gemacht“, sagt Wissenschaftlerin Christina Schuster, die im Bereich Fantum forscht. „Sie hat es normalisiert, leidenschaftlich zu sein.“ Um das einordnen zu können, müssen wir uns den Begriff der Manie, der sowohl Liszt- als auch Beatles-Fans anhaftet, noch einmal näher betrachten.

Starke Gefühle erlaubt

Laut Duden meint Manie eine Besessenheit, einen Zwang, sich in bestimmter Weise zu verhalten; eine krankhafte Sucht. Keine positive Bewertung und das war kein Zufall. „Weibliche Musikfans“, sagt Rainer Prokop von der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, „haben seit jeher eine Abwertung erfahren. Insbesondere durch den männlichen Rockmusik-Journalismus, der die männlichen Rockmusiker zu Stars machte und sich abwertend über junge Frauen äußerte, die Fans von den Beatles oder den Rolling Stones waren. Dabei waren es diese Frauen, denen die Stars vieles zu verdanken haben – icht zuletzt durch die Millionen gekaufter Platten und Konzerttickets.“

Taylor Swift hingegen präsentiert sich selbst als Fan, hat ihre Katzen nach Film- oder Serienstars benannt, ist auf der Microblogging-Plattform Tumblr aktiv. Was also, fragt Schuster, wenn wir den Begriff der Fangirls zurückerobern, positiv besetzen? Wenn wir Mädchen nicht für das Zeigen starker Gefühle belächeln, sondern von ihnen lernen? Denn, so meint auch Haid: „Fan-Sein ist nichts Schädliches, außer dass man vielleicht gewillt ist, für eine Sache viel Geld auszugeben. Vielmehr: Ist es nicht unglaublich schön, sich so begeistern zu können?“

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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