Venedig, die Welthauptstadt des Retro-Kults

Die Schau „Viva Venezia!“ im Belvedere verdeutlicht, wie sich Venedig im 19. Jahrhundert von der Seemacht zum Sehnsuchtsort wandelte

Ach, Venedig! Ungeachtet des Dauerklagens über Kreuzfahrtschiffe, Kommerzialisierung und Menschenmassen behält die Lagunenstadt ihren Reiz, und auch heuer werden sich viele kunstsinnige Menschen dorthin begeben – steht doch, mit einem Jahr Verspätung, wieder eine Kunstbiennale an.

Der Zeitpunkt für eine Ausstellung, die erklären will, wie Venedig zu dem wurde, was es heute ist, scheint also gut gewählt. Wobei „Viva Venezia!“, die nach der Schau „Dalí – Freud“ in der Orangerie nun auch die übrigen runderneuerten Schauräume im Unteren Belvedere mit Kunst bespielt, auch der coronabedingten Rückbesinnung auf die museumseigene Sammlung geschuldet ist.

Für den Kurator Franz Smola und seine Mitarbeiterin Arnika Groenewald-Schmidt fand sich in den Beständen der Österreichischen Galerie ein ungeahnt reicher Schatz an Venedig-Motiven: Stadtansichten, Alltagsszenen, aber auch historische Darstellungen waren im 19. Jahrhundert höchst en vogue, und durch die Teilung der kaiserlichen Sammlungen gelangten diese Bilder in den 1920ern ans Belvedere.

©Belvedere

Verblasster Glanz

Die Perspektive auf die „Erfindung Venedigs“, die sich in der Schau bietet, ist also eine sehr österreichische – war die Lagunenstadt doch von 1815 bis 1866 Teil der Habsburgermonarchie. Die Blütezeiten des einstigen Stadtstaats, zu dem zwischenzeitlich u. a. Zypern sowie große Teile Istriens, Dalmatiens und des Peloponnes gehörten, waren da schon lang vorbei, der wehmütige Blick zurück auf vergangene Größe war Teil der kulturellen DNA – wie später dann auch in Wien, möchte man ergänzen.

In den Bildern des Belvedere zeigt sich der Retro-Kult einerseits in Historiengemälden, die teils direkt vom Kaiserhaus in Auftrag gegeben wurden: Da imaginierte der akademische Maler Jacopo d’Andrea 1856 etwa eine gemeinsame Gondelfahrt von Albrecht Dürer mit seinem venezianischen Kollegen Giovanni Bellini; andere Werke erzählen heroische Episoden aus der Geschichte der Dogen-Republik. Herzstück ist das vom Malerfürst Hans Makart 1872/’73 geschaffene Bild „Venedig huldigt Caterina Cornaro“, das mit einem Format von rund 10 mal 4 Metern zu den größten Werken des Belvedere überhaupt zählt. Die monumentale Auswalzung einer Geschichte, die heute nur noch Feinspitze kennen (Cornaro wurde 1472 Königin von Zypern), war typisch für den Historismus des 19. Jahrhunderts.

©Belvedere

Ruinenporno

Doch auch die Darstellung von Zerfall, Armut und Kriminalität kam dem Geist jener Zeit sehr entgegen – vor bröckelnden Fassaden malten Künstler wie Anton Romako oder August von Pettenkofen also gern pittoresk darbende Kinder oder messerstechende Jünglinge.

©Belvedere

Wenngleich die Schau viel über die Selbstmusealisierung und den morbiden Charme Venedigs erzählt, lässt sie auch vieles unterbelichtet: Dass die Bildungsreisen von Aristokratie und Großbürgertum den internationalen Tourismus und den Kunstmarkt ganz maßgeblich befeuerten, ist etwa ein Aspekt, zu dem noch viel zu sagen wäre. Dem Umstand, dass Venedig mehr aus kommerziellen denn aus künstlerischen Erwägungen zum Anziehungspunkt vieler Künstler wurde, ist wohl ein Katalogbeitrag gewidmet, in den gezeigten Werken der einst kaiserlichen Sammlung spiegelt sich diese Erzählung aber kaum. Auch die ab 1895 abgehaltene Biennale, die die Retro-Stadt nach und nach zur Bühne der Gegenwart machte, bleibt außen vor.

Die Belvedere-Bestände – viele aus Anlass der Schau aufwendig restauriert – sind ihrerseits oft eher als Zeitdokumente denn als Meilensteine der Malerei interessant: Von einigen Ausnahmen abgesehen, bleibt das Gezeigte im Rahmen dessen, was im 19. Jahrhundert eben gern gemalt und gekauft wurde. Das 21. Jahrhundert kann hier schauen, wie das 19. Jahrhundert auf das 15. und 16. schaute. Die Lagunenstadt gäbe locker noch eine weitere Ausstellung her.

Michael Huber

Über Michael Huber

Michael Huber, 1976 in Klagenfurt geboren, ist seit 2009 Redakteur im Ressort Kultur & Medien mit den Themenschwerpunkten Bildende Kunst und Kulturpolitik. Er studierte Publizistik und Kunstgeschichte und kam 1998 als Volontär erstmals in die KURIER-Redaktion. 2001 stieg er in der Sonntags-Redaktion ein, wo er für die Beilage "kult" über Popmusik schrieb und das erste Kurier-Blog führte. Von 2006-2007 war Michael Huber Fulbright Student und Bollinger Fellow an der Columbia University Journalism School in New York City, wo er ein Programm mit Schwerpunkt Kulturjournalismus mit dem Titel „Master of Arts“ abschloss. Als freier Journalist veröffentlichte er Artikel u.a. bei ORF ON Kultur, in der Süddeutschen Zeitung, der Kunstzeitung und in den Magazinen FORMAT, the gap, TBA und BIORAMA.

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