Hauptpost, Luftpost, Kaffeehaus: Reiseautor Helge Timmerbergist im Interview

Andere nannten ihn Jäger der verlorenen Geschichten, er sich selbst Veteran des Reisens. Zumindest heute, mit 70. Der bekannte Reiseautor Helge Timmerbergist nach wie vor unterwegs und plant nicht, damit aufzuhören.

Von Nicola Afchar-Negad

Es ist nasskalt. Winter-Regen, der grausigste Niederschlag überhaupt. Helge Timmerberg betritt das Wiener Kaffeehaus mit Haube und Regenschirm, letzteren am Weg erstanden. „Ich hab’ die völlig falschen Schuhe an“, resigniert er mit Blick auf seine schwarzen Sneakers. „Ich wollte noch Socken am Weg kaufen“, aber: egal. Jetzt ist er da, der große Reiseschriftsteller, der 2022 seinen 70. Geburtstag abgehakt hat und im Februar 71 wird. „Lecko mio!“ scheint sich der gebürtige Norddeutsche da gedacht zu haben, zumindest hat er sein Buch über „Siebzig werden“ genau so genannt. Darin führt er die Leser nicht nur in die entlegenen Ecken der Welt, sondern auch zum Zahnarzt ein paar Straßen weiter. Eine spezielle Mischung? Tja, das passt zu Timmerberg, einem nicht mehr ganz so Jungen und nicht mehr ganz so Wilden, der aber immer noch direkt, unverblümt und schelmisch über das Leben sinniert. Ein Mann mit Ecken und Kanten, auch wenn das Alter diese ein wenig abgeschliffen hat.

Bei unserem ersten E-Mail-Kontakt waren Sie in Bangkok. Vermissen Sie die Zeiten, in denen man auf Reisen einfach nicht erreichbar war?

Helge Timmerberg: Auf meiner ersten großen Reise Überland nach Indien ging ich in Istanbul zur Hauptpost, trat an den Schalter für postlagernde Sendungen, legte meinen Ausweis vor und bekam einen Brief mit vielen blauen Luftpost-Marken. Meine Reaktion: ein Glücksgefühl. Ich steckte ihn ein, ging durch den Basar zum Puddingshop, vis-à-vis der Blauen Moschee, und genoss nun Vorfreude. Erst bei einem Chai oder zwei las ich die Nachrichten von zu Haus. Wochen später machte ich das Gleiche in Teheran. Hauptpost, Luftpost, Kaffeehaus. Und dann in Islamabad, New Delhi und Kalkutta. Wie eine Perlenschnur zogen sich die postlagernden Liebesgrüße aus der Heimat durch die Ferne, bis sich die Zeiten änderten und es erst Faxgeräte und dann das Internet gab. Natürlich vermisse ich das.

Und hat die Moderne auch Vorteile?

Also auf das Navi möchte ich ganz sicher nicht mehr verzichten!

Noch einmal zurück nach Bangkok – ist die Stadt für Sie ein guter Ort? Beziehungsweise was macht einen Ort für Sie interessant?

Nein, gar nicht. Thailand hat mich nie berührt. Südostasien generell nicht. Dort ist es einfach nur heiß und schön. Mich berührt Indien, der Orient. Das hat für mich alles eine Magie. Aber das ist schwer in Worte zu fassen.

Sie haben 10 Jahre lang auch in Marrakesch gewohnt. Fühlen Sie sich Marokko immer noch verbunden?

Ja, ja, absolut. Ich war vor ein paar Monaten erst dort. Und es ging sofort wieder los. Diese märchenhafte Schönheit ihrer Architektur und ihre wunderbaren Lügen. Der Orient ist auf alle Fälle einer meiner Seelen-Heimaten. Die der Träume wahrscheinlich. Es gibt eine Theorie aus der Neurologie – angeblich fühlen wir uns in den Labyrinthen der Medina so wohl, weil sie unseren Gehirnbahnen ähnlich sind.

Wie reisen Sie eigentlich am liebsten? Mit dem Flieger? Nach Marokko gibt es ja mehrere Routen und Möglichkeiten.

Tatsächlich liebe ich es, mit der Fähre vom spanischen Festland aus nach Marokko überzusetzen. Davor nehme ich noch den Bus aus Malaga, rauche eine Zigarette, bevor ich einsteige – ich glaube der Bus fährt sogar jede halbe Stunde, da braucht man nicht einmal viel zu planen. Diese Art des Reisens ist wunderschön. Ansonsten: Mein Vater hat mir ja einen Benz (Mercedes E220 CDI, Anm.) vererbt. Damit in Süd- und Osteuropa unterwegs zu sein, das sind heute meine liebsten Reisen.

In Ihrem Buch „Siebzig werden“ beschreiben Sie eine nicht unheikle Autofahrt von Wien nach St. Gallen. Sind das heute Ihre Abenteuer?

Ich hab’ das Wetter völlig unterschätzt. Das wurde zu einem richtigen Überlebenstrip und ja, das war ein Abenteuer! Der Unterschied zu Amazonas oder Sahara: Es war nicht so geplant! Aber man wird ja auch älter und mittlerweile finde ich das Planen oder Suchen von Abenteuern ziemlich blöd. Aber damals, in meinen 40ern war das natürlich etwas anderes, man kann es mit Extremsport vergleichen. Das Adrenalin, der Kick. Es war meine erste Droge.

Für Helge Timmerberg ist der Orient einer seiner Seelen-Heimaten 
 

©Wolfgang Paterno / picturedesk.com/Wolfgang Paterno/picturedesk.com

Timmerberg sucht plötzlich seine graue Strickhaube, es zieht im Kaffeehaus, er dreht sich immer wieder zur Eingangstüre um. Und sagt, dass er ein schwerer Hypochonder geworden sei im Alter. „Ein Luftzug und ich lieg danieder.“ Früher habe er Gelbfieber gehabt, Malaria (3 x !) und Würmer im Gehirn, aber das sei lange her. Jetzt kämpft er mit den Ausläufern einer Bronchitis.

Man hört ja so oft, dass das Reisen früher viel besser war, die Länder ursprünglicher, die Menschen authentischer. Können Sie das unterschreiben?

Früher war alles schöner, das Reisen, der Orient, alles – oder? Das hat vermutlich damit zu tun, dass man selbst schöner war (lacht). Wenn du schöner bist, dann kommt auch mehr Schönes auf dich zu. Wenn früher alles besser war, dann auch, weil man ein anderer war. Und: Die erste Reise ist immer beeindruckender als die Tausendste.

Sie sprechen viel darüber, dass man sich selbst verändert und das Reisen dadurch anders wahrnimmt. Früher haben Sie kein Risiko gescheut, wie ist das heute?

Das war so, aber ist es nicht mehr. Das ist dem Alter geschuldet. Der Körper weiß instinktiv, was er noch drauf hat. Und was nicht mehr. Außerdem ist man in jungen Jahren risikofreudiger, weil die Leidenschaften mächtiger als die Ängste sind. Sonst hätte ich mir nicht dreimal Tripper eingefangen.

Okay, Themenwechsel: Sie erwähnen in Ihrem letzten Buch Ihr „Heimatgrün“: Haben Sie auch ein Sehnsuchtsgrün?

Die Palme, ganz klar.

Aber die gibt es mittlerweile auch in Mitteleuropa.

Ja, aber die übersehe ich, hier ist das Deko. Als kleiner Junge bin ich mit meinem Vater immer aus Deutschland Richtung Rimini gefahren. Ich habe noch vor Augen, wie sich der VW durch die Serpentinen der Alpen gekämpft hat, mein Vater den Motor immer wieder kühlen musste. Und plötzlich kommst du da runter und siehst die Palmen. Sobald ich auf eine Palme blicke, weiß ich: ich bin im Süden. Ich bin nun mal Nordeuropäer und der Süden hatte immer eine magische Wirkung auf mich. In den Norden bin ich nur, wenn ich beruflich musste.

„Lecko mio – Siebzig werden“,Reiseschriftsteller Helge Timmerberg erzählt vom Älterwerden. Piper Verlag, 20,95 € 

©Verlag
Haben Sie ein Lieblingshotel im Süden?

Ganz klar, das Grand Hotel Londres in Istanbul. Das osmanische Reich, die Jungtürken, der Weltkrieg, Ata Türk und die neue Zeit – von all diesen Wimpernschlägen der Geschichte ist im „Londres“ etwas stehen, kleben oder hängen geblieben. Grammofone, Mini-Karusselle und Spieluhren, jede Art Gemälde, jede Generation Kanonenöfen und Samowars in allen Größen, Klaviere, antike Truhen, Spucknäpfe und Puppen, sowie die Evolution der Telefone, und einer der allerersten Staubsauger der Welt. Er ist nicht mehr im Betrieb, er steht in einer Ecke des Foyers wie eine Heiligenfigur. Ich nehme im „Grand Hotel Londres“ immer die Suite, in der Agatha Christie gewohnt hat, und wenn die nicht frei ist, nehme ich die von Hemingway. Beide sind geräumig und literarisch möbliert. Allerdings muss ich sie immer ein bisschen umgruppieren. Der Tisch gehört ans Fenster. Schreiben mit Blick auf das Goldene Horn, das kann schon was. Der Bosporus. Der Kuss der Meere. Von der Bar auf der Dachterrasse hat man den gleichen Ausblick, nun aber total, und an der Bar, unten im Salon, redet man irgendwann nicht mehr nur mit dem superfreundlichen Personal und der Heerschar goldener Engelein an der Wand, sondern auch mit den Papageien des Etablissements.

Bis zum Lebensende im Hotel wohnen wird vermutlich schwierig. Aber was ist mit dem Altersheim in Thailand, das im Buch vorkommt. Eine Option?

Nein, ganz sicher nicht. Wer weiß, vielleicht bringt mich ja dieser Luftzug hier um.

Helge Timmerberg entschuldigt sich. Seine Füße seien immer noch nass, er brauche ein heißes Bad. Zwei Tage später fährt er weiter nach St. Gallen, seinem Hauptwohnsitz. Um dort zu schreiben, an seinem 18. Buch – dem ersten über Marihuana und dessen Legalisierung in etlichen Ländern. „St. Gallen ist so langweilig, da schreibt es sich gut“, schmunzelt er – wie so oft äußerst spitzbübisch. Oder spitzveteranisch.

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