Radikal ehrlich: Was passiert, wenn wir öfter die Wahrheit sagen

Wir alle lügen wie verrückt, doch immer mehr Menschen begeben sich auf die Suche nach Ehrlichkeit. Ein Selbsterfahrungsbericht.

Der Tag, an dem ich auszog, um die Wahrheit zu entdecken, fing mit einer Lüge an. Nein, eh nichts Böses. Ich antwortete auf die Frage, wie es mir geht, einfach nur mit einer Extradosis aufgesetzten Frohsinns: „Super, danke!“ Warum? Weil ich mich nicht erklären wollte. Vielleicht, weil ich dachte, ich könne niemandem meinen holprigen Seelenzustand zumuten. Im Grunde bin ich seit meiner Kindheit darauf konditioniert, mich dezent durchzuschwindeln. Immer dort, wo es weh tut, unangenehm ist, subkutan wird. Wie viele andere auch, die mit sich Verstecken spielen, Gefühltes zurückhalten oder nicht sagen und tun, was sie denken oder tun wollen. Stattdessen: lächeln, schwindeln, durchsurfen. 150 bis 200 Mal pro Tag lügt der Mensch im Durchschnitt. Meist merkt er es nicht einmal, weil es dabei nicht um einen systematischen Feldzug des Flunkerns geht, sondern um Alltagslügen, die vollautomatisiert ausgeplappert werden und uns dazu dienen, nicht zeigen zu müssen, was wirklich ist.

Da saß ich nun im Zug, um einen Wochenend-Workshop für „Radical Honesty“ zu besuchen. Zweieinhalb Tage radikale Ehrlichkeit, geleitet von Trainer Bernhard Reingruber, der die Grundidee auf seiner Website (honestlead.at) angenehm klar formuliert: „Radical Honesty bedeutet ganz einfach, dass du jemandem anderen darüber berichtest, was du jetzt gerade wahrnehmen kannst – in deinem Körper, mit deinen Sinnen und in deinen Gedanken. Jetzt gerade in diesem Moment. Ohne Sales Pitch. Ohne Verzerrung. Klar und verletzlich.“ Klingt interessant, könnte aber „heiter“ werden, dachte ich. Allerdings kenne ich mittlerweile einige Leute, deren Leben und Lieben sich durch „Radikale Ehrlichkeit“ zum Guten verändert hat. Begründer des Konzepts ist der 81-jährige US-Psychotherapeut Brad Blanton, der im Jahr 1995 mit seinem Buch „Radikal ehrlich. Verwandle dein Leben – sag die Wahrheit“ einen Bestseller landete. Mittlerweile haben seine Seminare und Workshops Europa erreicht, die „Radical Honesty“-Fangemeinde wächst. Er ist davon überzeugt, dass alle Menschen wie verrückt lügen und sich damit eine ganze Menge Stress aufladen.

Was aber nicht bedeutet, dass jeder ab sofort jedem ungefiltert-brutal seine Sicht der Dinge ins Gesicht schleudern soll. „Nein. Das wäre jene Art von Ehrlichkeit, bei der ich nur über andere spreche. Oder mit anderen über andere. Radikale Ehrlichkeit bedeutet vielmehr, mit sich selbst ehrlich zu sein, und das, was ich fühle, mit anderen Menschen zu teilen. Genau genommen handelt es sich um eine Wahrnehmungspraxis. Ich nehme wahr, was ist und was mich bewegt, was mich ärgert oder traurig stimmt und wie ich mich dabei fühle. Das benenne ich – und kommuniziere es meinem Gegenüber“, sagt Bernhard, zu dem hier alle im Workshop Bernie sagen. So könnten sich Probleme oder zwischenmenschliche Konflikte lösen.

Heiße Wangen

Nun also sitze ich im Sesselkreis mit den anderen und übe, herauszufinden, was in mir ist. Bernie ermutigt uns, zu atmen und in den Körper zu reisen. Ich spüre, dass mein Herz heftiger klopft, die Wangen heiß sind, ich einen Magenstrudel und schwitzige Hände bekomme. Verdammt, vielleicht sind da schon rote Flecken am Hals. Weil ich mich ärgere, unsicher bin und, ja, ziemlich traurig. „Fühlen bis zum Gefühlsorgasmus“, nennt Bernie das. Ein bisschen wie eine XL-Dosis Achtsamkeitsmeditation, nur anstrengender. Weil es zur Sache geht – in der Direttissima dorthin, wo es wehtut (muss aber nicht sein). Ich sage der jungen Frau gegenüber dann ehrlich und direkt, was ich in der Begegnung mit ihr vorhin in der Pause empfunden habe: „Ich bin traurig und verunsichert, weil du mich so böse angeschaut hast.“ Jetzt ist es raus. Aha. Das hätte ich mir noch vor ein paar Tagen nie eingestanden, geschweige denn gesagt. Stattdessen runtergeschluckt und stundenlang über das „Warum?“ sinniert. Ich fühle mich verletzlich, unsicher. Tränen fließen, weil damit noch ganz andere Themen in mir berührt werden. Nach einiger Zeit wird’s besser, das ist schön. Weil wir beide echt sind, Gefühle und Gedanken teilen, die wir vermutlich noch nie mit anderen geteilt haben. Weil wir Mut entwickelt haben, zu sagen, wie und was wir empfinden. Hier. In diesem Moment. Erleichternd! Das schafft tiefe Verbindung und eine besondere Form von Nähe.

Radical-Honesty-Trainer Bernhard Reingruber

©TOBIAS STEINMAURER

„Wir sind alle hier, weil wir uns nach Echtheit sehnen, in einer Zeit von Korruptionsaffären und Social-Media-Illusionen. Ehrlichkeit und Authentizität lassen uns immer weniger kalt“, sagt Bernie. Das verändert etwas. Vor allem in Partnerschaften führen die vielen kleinen Lügen und Selbstlügen ins Dilemma, weil keiner ausspricht, was er will, und sich das Unausgesprochene aufstaut. „Die meisten Menschen sagen nicht, was sie wirklich bewegt, stattdessen streiten sie, wer mehr recht hat oder um die richtigere Interpretation von Wahrheit, sagt Bernie. Menschen, die lernen, das „Ihre“ wahrzunehmen und es im echten Kontakt zum Partner auszudrücken, erleben mehr Tiefe in der Beziehung. Indem wir Verletzlichkeit, Wut und Ärger zeigen, hat der andere die Möglichkeit, uns besser wahrzunehmen. Das erzeugt eine nie da gewesene Sicherheit, Vertrauen, Verstehen und Verstandenwerden. Und es übernimmt jeder mehr Verantwortung für sich. Für das, was er in die Beziehung einbringt, für seine Gefühle.

Bernie ist überzeugt, dass die Welt ein besserer Ort wäre, würde öfter die Wahrheit gesagt: „Es gäbe weniger Kriege, weil die Menschen mehr miteinander reden und sich weniger wegen ursprünglicher Kleinigkeiten die Schädel einschlagen würden. Weniger Rosenkriege, Familienkriege, unglückliche Menschen, unglückliche Kinder.“ Nach dem Workshop ist klar: Radikale Ehrlichkeit tut weniger weh als gedacht, der Wahrheitsdoktor hat gar nicht gebohrt! Das Schöne an dem Konzept: Da ist kein Moralismus oder gar „Reinheitsgebot“ mit rigiden Regeln. Ich habe immer noch die Freiheit, mich fürs Flunkern zu entscheiden und darf weiterhin Geheimnisse haben, vorausgesetzt, ich entscheide mich bewusst dafür.

Apropos, Sie wollen wissen, wie es mir geht? Danke, super. Ehrlich: Diesmal stimmt es sogar.

Tipp: Für alle, die Radical Honesty intensiv erfahren möchten - vom 23. bis 31. 8. findet in Österreich ein 8-Tage-Intensiv-Workshop statt, Info hier.

Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

Kommentare