Noir-Remake von Guillermo del Toro: Gedankenleser der Geheimnisse
Noir-Remake von Guillermo del Toro, schwule "Moneyboys“ in China, musikalische Tiere in "Sing 2", postkommunistische Satire und Krebsdrama
Mensch oder Bestie?
Um das herauszufinden, müssen die Besucher eines amerikanischen Provinzzirkus’ im düsteren Jahr 1939 in einen dunklen Raum stolpern. Dort verkriecht sich eine verwahrloste Kreatur mit faulen Zähnen und wilder Mähne. Provokant tritt der Zirkusdirektor näher und wirft ihm – Mensch oder Bestie? – ein lebendes Huhn zum Fraß vor, in das gierig hineingebissen wird.
Auch ein obdachloser Herumtreiber namens Stan befindet sich unter den Zusehern. Nach Ende der Vorführung lungert er weiter herum, hilft mit ein paar Handgriffen aus und wird schließlich neues Mitglied der vagabundierenden Truppe.
Im Original-Noir „Nightmare Alley“ von 1947 spielte Tyrone Power, Publikumsliebling aus Mantel-und-Degen-Abenteuern, den skrupellosen Helden Stan – sehr zum Unbill seiner Zuseher.
Im nachtschwarzen Remake von Guillermo del Toro, Oscarpreisträger für seine Unterwasser-Fantasie „Shape of Water“, übernimmt „Hangover“-Star Bradley Cooper die charismatisch-kettenrauchende Rolle des Homme Fatale. Nicht umsonst wurde Cooper der Titel „Sexiest Man Alive“ umgehängt: Mit eisigen, aber bei Bedarf schmelzenden blauen Augen und einer umwerfenden Selbstsicherheit luchst er sowohl Männer wie auch Frauen in seinen Einflussbereich.
Stan profiliert sich als gewiefter Gedankenleser und verblüfft sein Publikum mit genauen Detailkenntnissen aus ihrem Leben. Bald aber wird ihm der Zirkus zu eng: Gemeinsam mit seiner Geliebten Molly, einer Schaustellerkollegin, übersiedelt er in die Großstadt und macht dort in teuren Clubs als Hellseher Karriere.
Femme Fatale
Doch kein Film Noir ohne Femme Fatale. Cate Blanchett übernimmt die Rolle der gefährlichen Blondine Lilith Ritter: Sie macht mit Stan gemeinsame Sache und führt ihn an die Mächtigen der Stadt heran. Regisseur Guillermo del Toro liebt bekanntlich das Fantastische und bewies wiederholt sein unglaubliches Geschick darin, eindrucksvolle (Fantasie-)Welten zu erschaffen. Im Fall von „Nightmare Alley“ aber hat er es jedoch fast übertrieben. Die Zirkuswelt mit ihren bizarren Attraktionen unter einem ewig dunklen Gewitterhimmel bietet unzählige Schauwerte, fühlt sich aber trotzdem an wie ein etwas lebloser Themenpark.
Die Stadt wiederum inszeniert del Toro als unheimlichen Schauplatz übler Machenschaften und unterdrückter Triebe.
Dort praktiziert auch Stans neue Komplizin, die verführerische Psychiaterin Lilith Ritter, und hütet die Geheimnisse der Stadtväter. Die Einrichtung ihrer Ordination ist ein einziger Art-Deco-Rausch, Augenweide und Ablenkung zugleich. Cate Blanchett bewegt sich darin wie im Museum und bekommt Konkurrenz von den eigenen Möbeln. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll: Auf sie oder auf ihren Schreibtisch.
INFO: USA/MEX 2021. 150 Min. Von Guillermo del Toro. Mit Bradley Cooper, Cate Blanchett.
Filmkritik zu "Moneyboys": Chinesischer Callboy verdient Geld für die Familie
Klaviermusik, Tee, Sex. Es geht sehr gepflegt zu in der schicken Privatwohnung eines jungen, schwulen Mannes namens Fei, der sich in einer chinesischen Großstadt illegal prostituiert; Sexarbeit ist in China verboten. Das Geld, das er dabei verdient, kommt seiner Familie auf dem Land zugute.
Bei einem seiner seltenen Besuche zu Hause hält sich die Dankbarkeit der Verwandten in Grenzen. Homosexualität wird nicht akzeptiert. Fast dreißig und noch nicht verheiratet, klagt der Großvater. Wenn nicht bald mit Nachwuchs zu rechnen sei, würde die Familie ihr Gesicht verlieren, lamentiert der Onkel.
Der Riss, der durch die Generationen innerhalb einer sich rapid verändernden Gesellschaft geht, ist unübersehbar, das Gefälle zwischen Stadt und Land ebenso.
Der wunderschön fotografierte Debütfilm des austro-chinesischen Regisseur C. B. Yi feierte in Cannes in der renommierten Reihe „Un Certain Regard“ Premiere. C. B. Yi kam als 13-jähriger nach Österreich und studierte bei Michael Haneke.
Melancholisch
Der taiwanesische Filmstar Kai Ko spielt Fei als einen melancholischen Einzelgänger, der seine erste große Liebe verliert und sich dann eine prekär-luxuriöse Existenz mit wohlhabenden Kunden einrichtet. Das Gefühl von Verlust und Heimatlosigkeit umgibt Fei jedoch selbst im Kreise seiner Freunde. In langen, kontemplativen Tableaus entfalten sich die Lebensrealitäten der Figuren, ohne dabei statisch zu wirken.
INFO: Ö/F/BE/TW 2021. 120 Min. Von C. B. Yi . Mit Kai Ko, Yufan Bai, Chloe Maayan, JC Lin.
Filmkritik zu "Sing - Die Show deines Lebens": Ferkelmutter singt im Weltall
Ein Koala will hoch hinaus. Nachdem er, Buster Moon, mit einer Karaoke-Show für singende Tiere sein Provinztheater retten konnte, möchte er nun die große Welt beeindrucken.
Er macht sich mit seinen Gesangstalenten auf nach Redshore City, wo ein weißer Wolf nach einer passenden Show für die Bühne seines Nobelhotels sucht. Eine Affencombo singt „Abracadabra“ der Steve Miller Band, eine Nacktschnecke rappt Drakes „Hotline Bling“ und drei Küken versuchen sich an Eminem.
Dem wölfischen Impresario gefällt nichts davon. Doch das Produktionsstudio Illumination Entertainment – Macher von Animationshits wie „Minions“ und „Pets“ – legt nach „Sing“ mit dem Jukebox-Musical „Sing – Die Show deines Lebens“ einen veritablen Kassenschlager nach.
Im englischen Original leihen wieder Hollywood-Stars wie Scarlett Johansson und Reese Whiterspoon ihre goldenen Kelchen dem Gesangstalent von Stachelschwein und Ferkelmutter. Sogar Bono wird als alternder Löwe im Leder-Outfit aus der Pension geholt.
Wieder führte der Brite Garth Jennings temporeich Regie und spickt seine flotte Handlung mit visuellen Gags. Allein die Ballettstunden eines herrischen Nasenaffens namens Klaus Kickenklober, der zu Prokofjew-Musik seinen Esel-Schülern mit einem Staberl auf die Hufe haut, sind herrlich.
Bühnenshow
Der Koala inszeniert mit seiner Amateurtruppe eine Weltall-Show, die man im wirklichen Leben wahrscheinlich nicht sehen will. Doch der knallbunte Farbenrausch aus Schweinchenrosa und Gaggerl-Gelb, aufgepeppt mit Popsongs von Billie Eilish bis Prince, macht konstant gute Laune.
INFO: USA 2021. 110 Min. Von Garth Jennings. Mit den Stimmen von Bastian Pastweka, Alexandra Maria Lara.
Filmkritik zu "Der Schein trügt": Heiligenschein als Kopfschmuck
Der serbische Regisseur Srdan Dragojevic setzt sich in seiner Satire mit den großen Fragen des Seins auseinander: Gibt es einen Gott? Was kann Kunst? Und was haben Religion und Kunst miteinander zu tun?
Mit diesem Sammelsurium an Kunst- und Glaubensfragen sieht sich die postkommunistische Gesellschaft eines nicht konkret benannten osteuropäischen Landes konfrontiert. Die Handlung ist in Episoden geteilt.Eine handelt vom vorbildlichen Familienvater Stojan, der plötzlich mit einem Heiligenschein ausgestattet ist. Dass ihn dieser unerklärliche Kopfschmuck zur Attraktion seiner Nachbarschaft macht, stört seine Frau Nada. Also muss das Ding weg. Vielleicht hilft es, wenn Stojan ordentlich sündigt – aber der Heiligenschein verweilt ...
Es bleibt also nichts anderes übrig, als sich nach 50 Jahren Staatskommunismus doch der christlichen Religion zuzuwenden. Besonders skurril wird dieser Lernprozess, wenn die Bevölkerung kommunistische und christliche Rituale mischt.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: Serbien 2021. 120 Min. Von Srdan Dragojevic. Mit Goran Navojec.
Filmkritik zu "In Liebe lassen": Todkranke nicht in die Heldenrolle zwingen
In Emmanuelle Bercots berührendem Drama weigert sich ein Schauspiel-Lehrer (Benoît Magimel), sich seiner Krebserkrankung zu stellen. Seine Mutter (Catherine Deneuve) versucht, ihn zu einer Behandlung zu überreden.
Bercot bettet das fiktive Melodram in einen realistisch geschilderten Klinikalltag ein. In Gesprächsrunden sucht das Pflegeteam im Gedankenaustausch über Trauer- und Ohnmachtsgefühle aneinander Halt. Und tatsächlich sind die klugen Ratschläge des Arztes etwas, das man hier aus dem Kino fürs Leben mitnehmen kann: Todkranken nicht noch die Heldenrolle des „Kämpfers“ aufbürden, der ein schlechtes Gewissen haben muss, wenn er „versagt“ und stirbt.
Trauriger Film mit tröstlicher Wirkung.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: F/BEL 20221. 122 Min. Von Emmanuelle Bercot. Mit Benoît Magimel, Catherine Deneuve.
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