"Shame!" Wie Netflix & Co das Fernsehen wieder langweilig machen

Was vor 15 Jahren als große TV-Revolution begann, wurde von den Erbsenzählern der Streaming-Anbieter endgültig zu Grabe getragen. Goodbye, goldenes Fernsehzeitalter.

Hinweis: Unten findet ihr die Top-10 der leider nicht fortgesetzten Serien.

Hat man es kommen sehen? War nicht alles toll, hat nicht sogar der sonst so zynische Harald Schmidt, als ich ihn vor einigen Jahren interviewen durfte, vom "neuen Fernsehen" geschwärmt? Wie viel toller alles jetzt ist, und dass man die biedere TV-Unterhaltung, mit der wir uns Jahrzehnte lang begnügen mussten, heute einfach nicht mehr ertragen könnte?

"Ich konnte keine Filme und Serien mehr ansehen, wo das Hündchen nicht sterben darf, weil Mutti aus Mannheim sich sonst beim Fernsehsender beschwert", sagte Schmidt damals. Well, genau da sind wir heute wieder. Netflix & Co setzen auf Gewinnmaximierung und möglichst große Breite - da bleibt kein Platz mehr für das Schockierende, Ungewöhnliche oder ganz einfach Besondere. Fernsehunterhaltung wie anno dazumal, als nach strengen Codes ablaufende Filme und Serien landesweite Straßenfeger waren.

Und so ist es heute wieder: Man will es möglichst vielen recht machen. Alles, was verstört oder gemischte Reaktionen hervorruft, wird ohne viel Federlesen eliminiert. Die jüngsten Opfer: "1899", die neue, durchaus faszinierende Serie der "Dark"-Macher. Die nicht einmal wirklich schlechte Werte einfuhr, nur halt nicht umfassend euphorisch rezipiert wurde. "Westworld" natürlich, vielleicht eine der besten Serien der jüngeren Vergangenheit, "Gänsehaut um Mitternacht", obwohl schon in der ersten Folge medienwirksam Horror-Rekorde gebrochen wurden ...

Wir werden also nie erfahren, wie es mit den todgeweihten und wirklich sympathischen Charakteren weiter ergehen wird. So wie schon vor gut drei Jahren die Geschichte von Prairie Johnson im fantastischen "The OA" ganz einfach nicht weitererzählt wurde. Oder uns das Schicksal von Sandra Oh in "Die Professorin" für immer verborgen bleiben wird.

Dafür wird auf fragwürdige Massentitel gesetzt, die unsäglichen "Vikings" tanzen in Valhalla in ihren Biker-Monture und die "Barbaren" mutieren zu Asterix und Obelix, die in jeder Grundlage entbehrender Manier legionenweise Römer vermöbeln, Hauptsache die Quote stimmt und historisch an den langen Löwinnenmähnen herbeigezogene Frauen spießen mit Bodypainting statt Rüstung und kurzen Lederröckchen ihre bestens gerüsteten Feinde auf. Es ist fast zu viel Schwachsinn auf einmal, der da als Kassenerfolg unter die Leute gebracht wird ...

Was bleibt? Wir trauern um die Guten, und erinnern uns, wie schön die Fernsehwelt noch vor Kurzem war. Hier die Top-10 der leider nicht fortgesetzten Serien. Und auch gleich die Frage: Über welche Absetzungen ärgert ihr euch ganz besonders?
Bei "The Peripheral" besteht ja zumindest noch Hoffnung, die ist also nicht dabei.

10. The OA (2016-2019)

Die wunderbare Britt Marling hat eine magische Geschichte erfunden und gespielt, deren Ende wir leider nie erfahren werden. Die Absetzung führte zu Flash-Mobs vor einigen Netflix-Büros, leider ohne Erfolg.

9. Gänsehaut um Mitternacht (2022)

Der erfolgsverwöhnte Regisseur Mike Flanagan ("Absentia", "The Haunting of Hill House", "The Haunting of Bly Manor") konzipierte die Serie als staffelübergreifende Horror-Story mit intelligenten psychologischen und sozialen Elementen. Pech, dass die Netflix-Verantwortlichen weniger an der Geschichte als an Einschaltquoten interessiert waren.

8. Night Sky (2022)

Was für eine Besetzung, was für eine faszinierende Story! Die grandiose Sissy Spacek an der Seite von "best second man ever!" J. K. Simmons, dazu die argentinische Film-Legende Julieta Zylberberg und Entdeckung Rocío Hernández auf der Suche nach dem Sinn des Universums, des Lebens. Amazon-Streaming fühlte sich wohl leider überfordert ...

7. Die Professorin (2021)

Auch hier hat es einen echten Star eiskalt erwischt: Sandra Oh ("Grey's Anatomy", "Killing Eve"), die eigentlich als Blockbuster-Garantin gilt, musste mit der Serie über eine schrullige Hochschul-Professorin, die sie selbst mitproduzierte, nach nur einer Saison die Segel streichen. Schade. Und shame on you, Netflix!

6. Vinyl (2016)

Ein grandioses Perod Piece über die frühen 1970er in New York mit einem furiosen Bobby Cannavale in der Hauptrolle, produziert von Martin Scorsese und Mick Jagger. Etwas Besseres über die frühe Rock-Szene wird man kaum finden - die neue Leitung bei HBO, einem Sender, dem wir wirklich sehr viel an guter Unterhaltung zu verdanken hatten, war leider anderer Ansicht.

5. Mozart in the Jungle (2014-2018)

Wunderbare Unterhaltung, tolle klassische Musik - und eine staffelübergreifende Romanze zwischen einer nerdy Oboistin (die fantastische Lola Kirke) und einem exzentrischen, charmant an Gustavo Dudamel angelehnten, Dirigenten. Und wir werden nie erfahren, ob die beiden nun zusammenkommen oder nicht!

4. The Knick (2014-2015)

Ein unglaubliches Team mit Regisseur/Producer Steven Soderbergh und Hauptdarsteller Clive Owen über das legendäre "Knickerbocker"-Spital im New York der frühen 1900er. Nach nur zwei Staffeln schickte Cinemax seine Stars in den Ruhestand.

3. High Fidelity (2020)

Okay, Frauen sollen schwerterschwingende, halbnackte Barbarinnen spielen, aber nerdy Plattenladen-Besitzerinnen (Zoe Kravitz) steht ihnen nicht? Macho-Fans des Buch-Originals von Nick Hornby passte es nicht, dass ihr geliebter Super-Musikfreak Rob Fleming plötzlich von einer Frau gespielt wurde - und Streaming-Anbieter Hulu zog den Schwanz ein. Schade.

2. 1899 (2022)

Gerade haben wir uns noch darauf gefreut - jetzt ist es auch schon wieder zu Ende mit der Serie von Jantje Friese und Baran bo Odar, den zuvor gefeierten Machern der Erfolgsserie "Dark". Setting, Kostüme, Charakterentwicklung sind fantastisch, die Story dreht einem Knoten in die Synapsen - aber Netflix schien eine Fortsetzung zu risky. Ein echter Verlust.

1. Westworld (2016-2022)

Das Produzententeam Jonathan Nolan und Lisa Joy haben eine Welt entworfen, wie es sie zuvor noch nie auf TV-Bildschirmen gegeben hat. Inklusive einer Philosophie, die über klassische literarische Themen an den fundamentalen des Menschseins kratzt. In der Hauptrolle die anbetungswürdige Evan Rachel Wood. Ob ihr Versuch, als KI (künstliche Intelligenz) die Menschheit zu retten Erfolg haben wird, werden wir leider nie erfahren ...

Und welche Serien vermisst ihr?

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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