„Ich wollte einfach ein freies Leben haben“: Die Fotografin Marion Kalter
Sie betrachtete alles aus der Nähe: Geistesgrößen, Jazzmusiker in Paris, Klassik-Stars in Salzburg – und ihre eigene Geschichte.
„Ich bin weder katholisch, noch jüdisch, noch Französin, noch Österreicherin. Amerikanerin auch nicht wirklich. Das war mein Geschenk, dieser Blick von außen.“
Wir treffen Marion Kalter im Rupertinum in Salzburg, schräg gegenüber vom Festspielhaus. Hier an der Salzach wurde die Fotografin 1951 geboren, doch sie verbrachte nur die ersten drei Monate ihres Lebens in der Stadt. Erst als erwachsene Journalistin sollte sie wieder zurückkommen, als Chronistin der Festspiele für ein französisches Magazin.
Das fotografische Werk Kalters, das nun in einer Ausstellung im Rupertinum und in einem Buch ansatzweise fassbar wird, ist ungemein faszinierend. Denn es macht Verbindungen zwischen verschiedenen Polen der Kultur des 20. Jahrhunderts sichtbar: Die USA und Europa, Jazz und Klassik, Avantgarde und Alltag, Theorie und unmittelbare Körperlichkeit fließen in Kalters Bildern ineinander und finden auf direktem Weg Ausdruck. „Die Fotografin Susan Meiselas, die ich sehr schätze, hat gesagt, dass man Fotografen nach dem Objektiv benennen kann, das sie benutzen“, sagt Kalter. „Und ich bin da eher der 35-Millimeter-Typ. Das heißt, man kommt näher an die Menschen heran.“
Aus nächster Nähe
Kalters Fotos zeigen die Filmemacherin Agnès Varda im Bett oder die Literaten Gabriel García-Márquez und Joyce Mansour beim Rauchen eines Joints auf der Couch.
Die Nähe zu diesen Persönlichkeiten ist zum Teil Kalters eigener, transatlantischer Biografie geschuldet. Ihr Vater war als deutscher Jude in die USA emigriert, als Angestellter der NATO nach dem Krieg aber nach Salzburg gekommen, wo er Kalters Mutter – eine Wiener Schauspielerin, die in der NS-Zeit auch für deutsche Truppen aufgetreten war – kennenlernte.
Nach der Geburt der Tochter ging die Familie nach Washington, D. C., kam aber bald, wieder durch den Beruf des Vaters bedingt, nach Frankreich zurück und siedelte sich in einer ländlichen Gemeinde an. Kalter ging später wieder in die USA, um Malerei zu studieren, wechselte aber 21-jährig nach Paris.
„Ich habe dann eine Abschlussarbeit über Frauen in der Kunst geschrieben“, erzählt sie. „Ich bin zu Agnès Varda, zu Meret Oppenheim und anderen Künstlerinnen gegangen und habe sie Dinge gefragt wie: ,Wie schaffen Sie es, Kinder zu haben und dabei Kunst zu machen?’ Es gab viele Interviews, und dabei habe ich fotografiert.“
Die originalen Hipster
Nicht nur Kalters Uni-Themenwahl weist sie als Kind jener aufgeschlossenen Atmosphäre aus, die in der Pariser Kunst- und Studentenszene der frühen 1970er herrschte: Auch die Beziehung mit dem deutlich älteren afroamerikanischen Poeten, Maler und Musiker Ted Joans, die sie ab 1974 einging, war, gemessen am Mainstream der Zeit, durchaus ungewöhnlich.
Joans – ein Vielbegabter, der surrealistische Malerei ebenso praktizierte wie Jazz-Improvisation – führte Kalter in die Szene jener „Amerikaner in Paris“ ein, die damals um den Buchladen „Shakespeare & Company“ kreiste.
„Da gab es Lesungen, man hat sich gekannt, ging zu Vernissagen“, erzählt Kalter, die auf diesem Weg auch Beat-Poeten wie Allen Ginsberg oder den Literaten James Baldwin aus nächster Nähe fotografieren konnte.
„Ted Joans hat immer von den Hipsters gesprochen“, erzählt sie. „Man hat sich begeistert für die Dinge, die das Leben gegeben hat – Joans sprach immer von ,Food, Sex, and Art’. Aber diese Leute haben nicht einfach so dahingelebt, sie haben auch etwas hinterlassen.“
Kalters Bilder vermitteln das Lebensgefühl jener Zeit auf ansteckende Weise – verbunden mit dem Eindruck, dass Dinge damals unbeschwerter waren. „Es geht, glaube ich, in Zivilisationen immer streng und dann wieder lockerer zu“, sagt sie. „Heute sind viele Spießer da.“
Das Private, politisch
Wenngleich Kalter zweifellos vom Schwung der 1968er und der feministischen Bewegung profitierte, sah sie sich nicht explizit als Feministin: „Ich wollte einfach ein freies Leben haben“, sagt sie. „Meine Mutter ist gestorben, als ich 16 Jahre alt war. Ich war alleinstehend, hatte keine Geschwister, mein Vater war in Deutschland, und ich war auf mich selbst angewiesen. Niemand hat mir gesagt, mach dies oder das.“
Neben Porträts und Alltagsszenen sind Fotos, die die eigene Biografie reflektieren, der dritte Markstein in Kalters aktueller Werkschau. Nach dem Tod der Mutter inszenierte sie sich selbst für Bilder im Landhaus der Familie, „damit ich diese Räume wieder betreten konnte“, wie sie sagt. Sie reiste mit Kamera auf den Spuren ihres Onkels, der 1940 mit der Transsibirischen Eisenbahn über Russland in die USA geflohen war.
Die Hochzeitsreise der Mutter anhand gefundener Briefe nachzuvollziehen, ist ein noch unrealisiertes Projekt Kalters – ebenso wie eine Schau mit Fotos der Salzburger Festspiele aus 35 Jahren.
Deren legendärer Intendant Gérard Mortier gab Kalter einst die Erlaubnis, hinter der Bühne zu fotografieren – in der aktuellen Präsentation kommt der Werkblock kaum vor, ebenso wie Bilder des Komponisten Pierre Boulez, den die Fotografin über 30 Jahre begleitete. „Es gibt also noch sehr viele Schubladen zu öffnen“, sagt sie.
Marion Kalter: Ausstellung, Publikation, Website
Die Werkschau „Marion Kalter – Deep Time“ ist nur noch bis zum 22. Mai im Museum der Moderne im Rupertinum, Salzburg, zu sehen. Die Publikation „Deep Time" ist im Verlag Hartmann Books erschienen (184 Seiten, 34 €). Im Rahmen des „Salzburger Museumswochenendes“ (21. und 22. 5.) findet am 22. 5. eine Präsentation mit Marion Kalter und Florian Ebner, Leiter der Fotoabteilung des Pariser Centre Pompidou, statt (11 Uhr). Die Website der Künstlerin bietet einen umfassenden Überblick über ihre Arbeit und ein Verzeichnis aller von ihr fotografierten Personen.
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