Belinda  Sinclair (Janet), Tim Curry (Frank-N-Furter), Christopher Malcolm (Brad), Rayner Bourton (Rocky Horror) auf der Bühne in der Originalproduktion 1973

50 Jahre Rocky Horror Show: Als Transvestiten noch süß waren

1973 stand Frank-N-Furter das erste Mal auf der Bühne. Seine Arbeit an einer Welt voller Lust wurde weit mehr als nur ein erfolgreiches Musical.

Hätte es 1973 schon Facebook, Twitter oder Telegram gegeben, es wären wohl die Internetleitungen durchgeschmort.

Denn am 19. Juni dieses Jahres kam auf einer kleinen Nebenbühne mit 63 Sitzplätzen im Royal Court Theatre in London ein Stück zur Uraufführung, das bis heute die ideale Zornfalle im Kulturkampf ist: Darin verführt ein süßer Transvestit aus Transsylvanien in einer heißen Nacht ein Spießerpaar – ja, beide! –, baut sich einen Muskelmann im Labor zusammen und verspricht der Menschheit sowohl sinnliche Tagträume als auch erotische Albträume.

Und er trägt dabei Strapse (immerhin liest er kein Buch vor).

Die bis heute in Richtung freie Pronomenwahl und flexible Identität nachhallende Message: Träume es nicht, sei es.

Tim Curry in der "Rocky Horror Picture Show" (1975)  

©mauritius images / Alamy Stock Photos / Moviestore Collection/Alamy Stock Photos/Moviestore Collection/mauritius images

Kult

Das Stück hatte das Glück des Augenblicks – und wurde ein Riesenerfolg: Die "Rocky Horror Show" lief in der Originalproduktion an immer größeren Spielorten für fast 3000 Vorstellungen, lieferte Hits – "Time Warp"–, einen Kultfilm (1975) mit Tim Curry, Susan Sarandon und Meat Loaf, und bis heute die Gelegenheit für fanatische Fans, bei den Vorführungen im passenden Outfit die Handlung mitzuspielen. Sie wurde ein ikonisches Stück Popgeschichte, das Heranwachsende mit runtergeregeltem Ton heimlich spätnachts im Fernsehen anschauten und erwerbstätigen Erwachsenen Vorlage kurze Momente der inneren Freiheit verschafft.

Rocky Horror Fakten Show

  • Die Premiere
    Nach zwei Voraufführungen kam die „Rocky Horror Show“ am 19. Juni 1973 in London zur Uraufführung. Richard O’Brien hat das Rockmusical komponiert und geschrieben. 1975 folgte die Verfilmung als „Rocky Horror Picture Show“ (O’Brien spielt darin den Butler Riff Raff), die zuerst kein Erfolg war und später Kult wurde
  • Time Warp
    Es ist nur ein Sprung nach links, und dann ein Schritt nach rechts: Der „Time Warp“ ist der berühmteste Song. Weitere bekannte Nummern: „Sweet Transvestite“ und „Touch-A-Touch-A-Touch-A-Touch Me“
  • Tim Curry
    Spielte danach u. a. in Stephen Kings „Es“. Er ist nach einem Schlaganfall schwer erkrankt

Und sie ist mehr als ein Musical: Richard O’Brien schuf ein wegweisendes Werk, das eine wesentliche gesellschaftliche Entwicklung im richtigen Moment abbildete. Denn dank Pille, Rockmusikideologie und Flower Power bogen Anfang der 1970er immer mehr Menschen aus der Nachkriegsspießigkeit um ein Eck – und hinter dem eröffneten sich plötzlich sexuelle Horizonte, die vorher gleichsam nur unter dem Ladentisch die Runde machten.

Die heitere Selbstverständlichkeit, mit der der sexuelle verflüssigte Frank-N-Furter seine Lust auf alles loslässt, was sich bewegt, ob Manderl oder Weiberl, war damals unerhört: Erst seit 1967, nur sechs Jahre vor der Premiere der Show, mussten homosexuelle Männer in London nicht mehr fürchten, im Gefängnis zu landen. Damals wurden in England und Wales gleichgeschlechtliche Beziehungen legalisiert, in Schottland erfolgte das erst 1980. In dem Kontext darf man etwa „Over At That Frankenstein Place“ auch heute hören: Das Licht soll die Dunkelheit verdrängen, die in allen wohnt – und zwar egal, wer du bist.

Es war eine Zeit des sexuellen Aufbruchs, in der junge Menschen mit einer zuvor fast außerirdisch scheinenden Welt in Berührung kamen, und einer fast ebenso starken Gegenrevolution. Nicht alle in der Nachkriegsgeneration konnten mit der neuen sexuellen Freizügigkeit etwas anfangen.

Dementsprechend heiß wurde gestritten – die Aufführungen der „Rocky Horror Show“ und später der „Rocky Horror Picture Show“ waren ein früher Safe Space für jene, die mehr wollten als nachehelichen Sex.

Und die Fragen an die Sexualität stellten: Schon der kleine Frank-N-Furter wollte sich kleiden wie ein weiblicher Filmstar (die ganze Show ist eine Hommage an die Welt der B-Movies), später ist er dann bei Tag nicht sehr viel Mann, in der Nacht aber ein Liebhaber: Dass Sex und die dazugehörigen Fragen kompliziert und komplexer sind als Mann und Frau, überraschte damals schon niemanden und heute nur die, die sich davon überraschen lassen wollen.

Der Test der Zeit

Die Nach-Schau der „Rocky Horror Picture Show“ macht klar: Das alles mag zwar nicht mehr jeder Finesse der aktuellen LGBTIQA+-Debatte entsprechen; es hat aber immer noch gesellschaftlichen Pfeffer und Notwendigkeit.

Allein wegen des Endes, das sich allzu gut ins Jetzt übersetzt: Denn die sexuelle Befreiungsmission ist gescheitert – „dein Lebensstil ist zu extrem“ –, Frank-N-Furter muss zurück ins kalte All. Dabei war gerade sogar beim verklemmten Brad die Libido erwacht.

Das ist auch der Stand ein halbes Jahrhundert später: An Drag Queens und Transmenschen arbeitet sich der Kulturkampf ab, als wären nicht alle Beteiligten mit der „Rocky Horror Show“ aufgewachsen. Sarandon retweetet Verschwörungstheorien zum Ukrainekrieg, und die „Rocky Horror Show“ wird längst in mutlosen Tourproduktionen durch die Mehrzweckhallen gereicht.

Georg Leyrer

Über Georg Leyrer

Seit 2015 Ressortleiter Kultur und Medien, seit 2010 beim KURIER, seit 2001 Kulturjournalist. Zuständig für alles, nichts und die Themen dazwischen: von Kunst über Musik bis hin zur Kulturpolitik. Motto: Das Interessanteste an Kultur ist, wie sie sich verändert.

Kommentare