Eine silberne Justitia-Figur mit verbundenen Augen hält eine Waage in der erhobenen Hand.

Unfaire Urteile: „Ist Justitia auf einem Auge blind?“

Zwei Anwälte, zwei Ansichten, eine Rechtslage: Das Wiener Duo erzählt Geschichten aus seiner Ehe, beantwortet Fragen, die uns im Alltag beschäftigen, erklärt, was vor Gericht zählt – und wie er oder sie die Causa sehen.

Der Fall: Wie heißt es so schön: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Händen“. Der Ausgang eines Verfahrens ist nur selten vorhersehbar und wer sich Gerechtigkeit erhofft, wird vielleicht eine Enttäuschung erleben, denn Gerichtsentscheidungen sind nicht immer fair. Warum lässt der Gesetzgeber zu, dass ein Ehepartner in einer Trennungssituation aus der Emotion heraus und ohne die Konsequenzen zu kennen, auf (fast) alle Ansprüche verzichten kann? Warum wird ein Einzelunternehmer bestraft, wenn er Mitarbeitern zu wenig bezahlt, während international tätige Unternehmen ihre Fahrradboten für wenige Euro pro Stunde bei Wind und Wetter auf die Straße schicken können? Und wie kann es sein, dass ein Handwerker, der seine Leistung ordnungsgemäß erbracht hat, nicht zu seinem Recht kommt, wenn die Rechnung nicht bezahlt wird? Wen das Recht schützt und wen nicht, ist oft nur schwer nachvollziehbar.

Mag. Carmen Thornton

In Österreich können Verträge grundsätzlich auch mündlich oder sogar schlüssig abgeschlossen werden. Es gibt aber Ausnahmen, und zwar auch in Bereichen, in denen man dies nicht unbedingt vermuten würde. So sind viele Verträge zwischen Ehegatten, etwa Kauf- oder Darlehensverträge, notariatsaktpflichtig.

Wird diese Form nicht eingehalten, ist der Vertrag – jedenfalls bis zur vollständigen Erfüllung – nichtig. Das soll übereilte Entscheidungen verhindern und Gläubiger vor einer Verschleierung der Vermögensverhältnisse schützen.

Eine Frau im roten Kleid lehnt an einer Wand in einem Bürogebäude.

Carmen Thornton ist Rechtsanwältin in Wien.

©Thornton & Kautz Rechtsanwälte

Formvorschriften bei Eheverträgen

Auch Vereinbarungen, mit denen die Aufteilung für den Fall einer späteren Scheidung im Voraus geregelt wird („Eheverträge“), sind formpflichtig. Für die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens (z. B. Autos oder sonstige Gebrauchsgegenstände) reicht ein schriftlicher Vertrag. Wenn es um die ehelichen Ersparnisse oder die Ehewohnung geht, ist sogar ein Notariatsakt und damit auch eine rechtliche Beratung erforderlich.

Außerdem unterliegen solche Vereinbarungen einer gerichtlichen Nachkontrolle. Wird ein Ehepartner zu sehr übervorteilt, kann das Gericht den Vertrag auf ein verträgliches Ausmaß anpassen. Erst kürzlich hat der OGH entschieden, dass eine grobe Benachteiligung schon dann vorliegen kann, wenn ein Ehepartner weniger als die Hälfte von dem bekommt, was ihm ohne Ehevertrag zustehen würde. Das Gesetz schützt also vor zu viel Naivität und Dummheit - und das ist in der Praxis auch dringend notwendig.

Unterschrift auf einer Serviette gilt

Umso unverständlicher ist es, dass dieselben Vereinbarungen im Zuge einer Scheidung innerhalb von wenigen Minuten ohne jede rechtliche Beratung getroffen werden können, auch mündlich oder auf einer Serviette.

Wenn bereits die Absicht besteht, sich zeitnah scheiden zu lassen, schützen weder Formvorschriften noch besteht die Möglichkeit einer richterlichen Nachkontrolle. Und das, obwohl gerade bei einer anstehenden Scheidung die Emotionen hochkochen und vorschnell Entscheidungen getroffen werden, ohne die Konsequenzen zu bedenken.

Auch Schuldgefühle nach einem Seitensprung, die Hoffnung auf eine Befriedung der Situation oder der Wunsch nach einer schnellen Lösung ohne Anwälte und Gericht verleiten oft zu leichtfertigen Zugeständnissen. Ein einziger Satz oder eine unüberlegte Unterschrift kann daher zum Verlust von Ansprüchen führen, die später finanzielle Sicherheit gewährleisten würden. Denn eine Anfechtung des Vertrages, etwa wegen Irrtums, List oder Drohung, ist ein langwieriger Prozess – mit hohen Kosten und ungewissem Ausgang.

Warum der Gesetzgeber gerade in so einer Ausnahmesituation auf den Schutz vor unüberlegten Entscheidungen verzichtet hat, versteht wohl niemand. Die Idee, dass die Ehepartner die Folgen der Scheidung selbstständig und friedlich vereinbaren sollen, ist zwar begrüßenswert, hat aber mit der Realität leider nur wenig zu tun. Denn in der Praxis wird dann meist der finanziell schwächere Ehepartner benachteiligt, der sich rechtlich nicht so gut informiert hat oder Streit vermeiden möchte.

Daher ist es gerade in Krisensituationen wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine faire, einvernehmliche Lösung ist zwar immer zu bevorzugen. Doch ein voreiliger Verzicht, ohne zu wissen, was einem eigentlich zustehen würde, ist mehr als unklug. Und wenn man zu einer raschen Unterschrift gedrängt wird, sollten alle Alarmglocken schrillen.

Mag. Johannes Kautz

Das Gesetz soll einen sinnvollen Interessenausgleich schaffen und den schwächeren Teil schützen. Dafür gibt es zwingende Rechtsvorschriften. Doch nicht nur im Familienrecht ist dieser Schutz lückenhaft wie Schweizer Käse und oft profitiert der Falsche.

Vor allem Scheinselbständige sowie Klein- und Mittelbetriebe werden im Regen stehen gelassen.

Ein Mann im Anzug lehnt an einer Wand in einem Bürogebäude.

Johannes Kautz ist Rechtsanwalt in Wien.

©Thornton & Kautz Rechtsanwälte

Schutzlose „selbständige“ Boten

Dank Arbeitnehmerschutzgesetzen und Kollektivverträgen ist man in Österreich als Arbeitnehmer vor Ausbeutung geschützt. Bei Unterentlohnung drohen hohe Strafen – für jeden einzelnen Fall. Doch nach wie vor radeln Essenzulieferer als „Selbständige“ ohne Arbeitnehmerschutz und soziales Auffangnetz für einen Hungerlohn durch die Stadt. Und während Betriebe mit überbordender Bürokratie zu kämpfen haben, schafft es der Gesetzgeber nicht, diesen Missstand zu beseitigen. 

Zwar gibt es seit 2023 einen Kollektivvertrag für Fahrradboten und ab 1.1.2026 können auch Kollektivverträge für freie Dienstnehmer abgeschlossen werden, der große Wurf ist das aber nicht. Und die neue EU-Richtlinie zur Plattformarbeit ist bei der Bekämpfung der Scheinselbständigkeit ein zahnloser Papiertiger.

Gratisleistung für Verbraucher

Auch der Konsumentenschutz treibt seltsame Blüten. Regeln, die für Großkonzerne gemacht wurden, werden mit der vollen Härte des Gesetzes auf Klein- und Mittelbetriebe angewendet. Während ein Jurist beim Abschluss eines privaten Handyvertrages als Verbraucher vor Rechtsunkenntnis geschützt wird, werden Berufsfotografen, Handwerker etc. mit Zettelwirtschaft und absurder Bürokratie gegängelt. Auch für sie gelten die meisten Verbraucherschutzvorschriften – genauso wie für Amazon und Co. Und die kleinste Fehleinschätzung wird mit drastischen Sanktionen belegt.

Die Rechtsprechung des EuGH hat sich von der Realität der Klein- und Mittelbetriebe so weit entfernt wie vom natürlichen Gerechtigkeitsempfinden. So musste ein Elektrikerbetrieb vor einiger Zeit feststellen, dass er für eine einwandfreie Leistung kein Geld bekommt. 

Warum? Der wirtschaftlich eher nicht so übermächtige Unternehmer hatte den Auftrag gleich beim Kunden vor Ort bekommen. Und daher bestand ein 14-tägiges Widerrufsrecht, über das er den Kunden belehren hätte müssen. Der Kunde hätte dann auch auf das Widerrufsrecht verzichten können, damit der Elektriker sofort mit der Arbeit beginnen kann.

Kunde musste nicht zahlen, trotz einwandfreier Arbeit

All das wusste der Elektriker aber nicht und nachdem die Arbeit erledigt war, wollte der Kunde den Vertrag plötzlich nicht mehr - genauer gesagt wollte er die Rechnung nicht bezahlen. Die Elektrik wollte er schon behalten – die war völlig in Ordnung. Also widerrief der Kunde den Vertrag. Ob er das Widerrufsrecht schon bei Vertragsabschluss kannte und warum ihm dieser Gedanke erst kam, als die Rechnung ins Haus flatterte, wissen wir nicht.

Jedenfalls ging der Fall bis zum EuGH und der entschied, dass der Elektriker nicht einmal einen angemessenen Teil des Entgelts bekommt. Ob er im Falle einer Belehrung mit dem vorzeitigen Tätigwerden beauftragt worden wäre, war nicht relevant. Und dass der Kunde eine neue Elektrik hatte, für die er auch jedem anderen Elektriker etwas bezahlen hätte müssen, beeindruckte den EuGH nicht. Denn die Verbraucherschutzvorschriften müssen „abschreckend“ sein. 

Dass auch Handwerker davor geschützt werden sollten, dass sich Kunden mithilfe der Rechtsordnung Gratisleistungen erschleichen, ist scheinbar nicht so wichtig.

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