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Alles so fad: Warum wir in der Ära des Gefälligen leben

Mode, Musik oder Design – die Gegenwart setzt auf Altbekanntes. Krisen und KI bremsen Kreativität. Wieso es mehr Mut zur Unvernunft bräuchte.

und Katharina Salzer

Die Sechziger hatten den Minirock, die Siebziger die Glockenhose, die Achtziger die Schulterpolster, die Neunziger den abgeranzten Grungelook. Jede Dekade hinterließ ein Bild, das sich sofort abrufen lässt. Und heute? Wo ist das Neue? Das Freche, das Herausragende, das Provokante?

„Die heutige Ära wird modisch in Vergessenheit geraten. Sie ist in keiner Weise prägend wie die Sechziger-, Siebziger-, Achtziger-, Neunzigerjahre“, sagte Raf Simons, Kreativdirektor von Prada, kürzlich im Zeit-Magazin. Zwar seien „heute sehr viele Leute gut angezogen, weil das Angebot so groß ist. Man kann in einen beliebigen Laden gehen und wird dort etwas Nettes finden.“ Doch genau darin liegt das Problem: „Was sehr rar ist, sind Menschen, die wirklich hervorstechen.“

Auch in der Musik oder der Einrichtung zeigt sich: Es ist nicht schlecht, es tut nicht weh. Aber wirklich aufregend ist derzeit wenig. Alles schon dagewesen. Eine Diagnose, die Boris Planer teilt. Er beobachtet Konsum- und Gesellschaftstrends beim Zukunftsinstitut. „Wir leben tatsächlich in einer Ära des Gefälligen, denn anzuecken ist riskant geworden – allein schon wegen der Jobunsicherheit“, sagt er.

Die Leute verhalten sich wie Schafe. Alle wollen gleich aussehen, und alle haben Angst davor, kritisiert zu werden.

Raf Simons im Interview mit dem Zeit-Magazin

„Das macht die Leute vorsichtig. Man muss heute schon 30 Jahre alt sein, um eine Erinnerung an eine Welt zu haben, die sich nicht in einer Dauerkrise befindet.“ Angefangen beim 11. September bis zu den aktuellen Kriegen. Der Einzug der Künstlichen Intelligenz habe noch einmal zu einer Zurückhaltung geführt. „Letztlich ist sozial anerkannter Individualismus das Ding. Man möchte individuell sein, möchte aber auch die Bestätigung seiner Gruppe haben.“

Menschen wollen Behagliches in der Krise

Krisen nähren Nostalgie: „Wir haben es in der Pandemie erlebt, da war das Design der 70er-Jahre in.“ Mitglieder der Generation X – mit Familie und in Führungspositionen – gerieten unter Druck: „Da steigt das Bedürfnis nach Unbeschwertheit. Und für diese Generation waren die 70er-Jahre die Zeit der Unbeschwertheit.“ Solche Rückgriffe holen Stress aus dem Alltag. Und das verschwinde nicht. „Die Zeiten werden ja nicht sicherer.“

Prada-Kreativdirektor Simons deutet an, warum das Bekannte heute mehr zieht als das Neue: „Ich glaube, dass das mit den Sozialen Medien zusammenhängt. Die Leute verhalten sich wie Schafe. Alle wollen gleich aussehen, und alle haben Angst davor, kritisiert zu werden. Als ich jung war, wollte jeder das schwarze Schaf sein.“ Doch er versteht es: „Die Leute haben heute Angst davor, als anders verspottet zu werden.“

Planer ergänzt: „Wir sind Nachfahren von Menschen, die wirklich physisch und seelisch Schmerzen empfinden, wenn sie aus der Gruppe ausgestoßen werden.“ Und Soziale Medien verstärken das Verhalten: „Man orientiert sich an Leitbildern, von denen man annimmt, dass sie positiv bewertet werden. Da spielen Influencer natürlich eine große Rolle.“ Mode, Schönheitsprodukte, Schönheitsoperationen – alles unterliegt dem Mainstream: „Es gab und gibt die Tendenz, dass man versucht, auch mit Hilfe der Schönheitschirurgie so auszusehen, wie es die Filter auf Social Media vorgeben.“ Kein Wunder, dass viele junge Frauen heute sehr ähnlich, sehr gekünstelt hübsch aussehen, oft mit aufgespritzten Lippen.

Nice statt cool

Ob das noch cool ist? Völlig egal. In unsicheren Zeiten verschwindet die Sehnsucht nach Auffälligem, nach Abgehobenem. Vielmehr ist alles „nice“. Ja, harmlos, flauschig, nett. 

„Man sucht sich heute Leitbilder, die realistisch erreichbar sind“, erklärt Planer. „Gerade junge Menschen holen sich Bestätigung nicht mehr über Statussymbole, sondern aus immateriellen Dingen: aus Freundschaften und deren Qualität, aus Erlebnissen, Reisen, dem, was man kann – etwa kochen oder Musik machen.“

Für Unternehmen ist das entscheidend – und problematisch. „Da tun sich Welten auf.“ Viele Firmen, ob Mode-, Luxus- oder Technikbranche, werden von Menschen geführt, die noch in der alten Welt denken. „Sie ahnen nicht, mit welcher Geschwindigkeit und Tiefe sich der Wandel vollzieht – und wie grundlegend anders die nächste Generation von Verbrauchern tickt“, sagte der Trendforscher.

Es geht nicht nur darum, Prozesse zu optimieren, Designs und Farben anzupassen, sondern darum, eine Stimmung zu spüren und mutig mal direkt aus der Art zu schlagen, etwas richtig anders zu machen.

Boris Planer Trendforscher beim Zukunftsinstitut

Doch ist die Kreativität am Ende? Hat ein wacher, findiger Geist wie Raf Simons – mitsamt dem Label Prada – da heute überhaupt noch eine Chance? „Das bedeutet, dass man sehr genau seine Zielgruppen kennen muss. Es gibt Trends, es gibt Gegentrends“, sagt Planer. „Man muss unbedingt mit den Stimmungen in der Bevölkerung und den psychologischen Tiefenströmungen in unserer Gesellschaft im Kontakt bleiben, um den richtigen Ton zur richtigen Zeit für die richtigen Leute zu treffen.“

Unbedingt etwas ganz anderes machen

Menschliches Gespür bleibt entscheidend. „Es geht nicht nur darum, Prozesse zu optimieren, Designs und Farben anzupassen, sondern darum, eine Stimmung zu spüren und mutig mal direkt aus der Art zu schlagen, etwas richtig anders zu machen.“

Gerade in der Luxusbranche wird das laut Planer zum Schlüssel: „Weg von Everyday Fashion und Fast Fashion – sich davon zu differenzieren und eben etwas völlig anderes zu machen, das wird ein echter Skill sein.“ Für den Premium-Bereich bedeutet das „wirklich noch mehr menschlichen Input“ und eine „kritische Auseinandersetzung mit dem Mainstream und auch eine kritische Auseinandersetzung damit, was der Mainstream mit den Köpfen der Leute macht“.

Die Trendzyklen beschleunigen sich zudem durch kürzere Logistikwege: „Man braucht mehr Neues und mehr Impulse.“ Große Trends wie der Grunge-Look der Neunziger kehren in unterschiedlichen Spielarten zurück. „Wir werden viele Crossovers sehen“, sagt der Trendforscher Planer. „Und das ist vielleicht der Kern von Kreativität heute. Man kann klagen, es gebe nichts Neues mehr, aber es gibt unzählige Arten, Dinge zu kombinieren, wie sie noch nie zuvor kombiniert wurden. Ich denke, davon werden wir noch viel mehr sehen.“

Algorithmen schlagen vor, was wir mögen

Fix ist auf jeden Fall: Alles wiederholt sich. Ein entscheidender Faktor sind die Algorithmen. Sie schlagen den Menschen vorwiegend das vor, was sie ohnehin schon mögen. Und auch die Künstliche Intelligenz (KI) muss sich am Vorhandenen bedienen.

John Haas bewertet das so: „Wir leben in einer Recyclingkultur“, sagt der Psychologe von der AG Digitalisierung des Berufsverbands der österreichischen PsychologInnen (BÖP). „Unsere Gesellschaft hat in den vergangenen 70 Jahren eine große Menge an Ideen, Weltsichten und Formen des Ausdrucks hervorgebracht. Jetzt sind wir an einem Punkt, in der sogenanntes Neues vor allem aus einer Selbstähnlichkeit heraus geschaffen wird.“

Das werfen wir nicht weg

Ja, die Zyklen hat es schon immer gegeben. Und auch das Bewusstsein dafür. Der Spruch älterer Menschen „Das schmeiß ich nicht weg. Das kommt in ein paar Jahren wieder“ ist vielen bekannt, wenn es ums Ausmisten des Kleiderschranks geht. Oder man denke an den Historismus in der Architektur. „Der Unterschied ist, dass die Zyklen jetzt wesentlich kürzer werden“, sagt Haas. Denn Algorithmen messen und bestärken Ähnliches. Daraus ergeben sich Probleme: „Die Neuschöpfungen werden immer stärker an Automatismen ausgelagert“, sagt Haas.

„Es ist zu befürchten, dass die Rolle von originär innovativen oder kreativen Menschen im Abnehmen begriffen ist.“
 

John Haas Psychologe, AG Digitalisierung des BÖP

Und jetzt gibt es auch noch Large-Language-Models (LLMs), fortgeschrittene KI-Systeme: Sie wirken kurzfristig, so die Forschung, wie ein Kreativitätsbooster. Aber auf lange Sicht sinkt die Fähigkeit, wirklich originelle Ideen zu entwickeln. „Es ist davon auszugehen, dass sich auch unser Denken und Handeln künftig stärker nach ihrem Muster formt. Letztlich bremsen Large-Language-Models Kreativität und Innovation.“

 Doch was für Unternehmen zählt, ist der Markt. „Innovation und Originalität sind kein Wert per se für produzierende Unternehmen, wenn kein Absatz dahintersteht“, sagt der Psychologe.

Gibt es einen Ausweg? Die Frage ist, ob die Leistung talentierter Menschen weiterhin die gleiche Anerkennung finden wird. Für Haas lautet die Antwort: Nein. Denn das Beste was dem Markt passieren kann, sei wenn Entwicklungen abschätzbar sind. Haas: „Es ist zu befürchten, dass die Rolle von originär innovativen oder kreativen Menschen im Abnehmen begriffen ist.“

Ab in den Technologie-Biedermeier

Die Flucht in ein Technologie-Biedermeier sieht Haas auch – aus den Krisen der Menschheit heraus. Weder der Diskurs noch der förderliche Dissens werden gesucht. „Mehr Menschen werden ihr Potenzial nicht entfalten können.“ Was er fordert: „Einen neuen Mut zur Unvernunft und eine stärkere spielerische Haltung gegenüber dem eigenen Dasein und der Welt.“

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember 2020 über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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