Wieso Charles Dickens der Vater der englischen Weihnacht ist

Es ist DIE klassische Weihnachtsgeschichte: Die Novelle des britischen Schriftstellers Charles Dickens. Zum 180. Jubiläum begab sich die freizeit in London auf Spurensuche.

"Humbug! Unfug!“, knurrt der geizige Scrooge und platzt durch eine Gruppe unschuldiger Sternsinger. Selbst wer keine einzige Zeile der Weihnachtsgeschichte je gelesen hat, dem dürfte diese Szene bekannt vorkommen: Vielleicht hat man sie in der Muppets-Version vor Augen; man sieht Bill Murray als kaltherzigen TV-Produzenten Frank Cross vor sich oder denkt bei Scrooge gar an Jim Carrey in der Disney-Verfilmung. 

Denn abgesehen von den biblischen Texten, ist "Die Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens, eine der bekanntesten und meist adaptierten Texte, wenn es um das Fest der Liebe geht. Doch die Novelle mit dem universellen Plot, der schnellen Handlung und der wohltuenden Erlösung des griesgrämigen Sünders unterhält nicht nur seit Generationen, sie hat auch das Weihnachtsfest in seiner heutigen Form etabliert. Wie kam es eigentlich dazu?

Literarische Entdeckungsreise

Um mehr herauszufinden, geht es zur 48 Doughty Street im intellektuellen Londoner Stadtteil Bloomsbury. Draußen herrscht dichter Herbstnebel, als die Autorin und Kunsthistorikerin Lucinda Hawksley durch die kirschrote Tür eintritt. 

©Lewis Bush

"Schon als ich das erste Mal hierher kam, hatte ich das Gefühl, dass dies ein Familienhaus war“, sagt sie, während sie den Regen abschüttelt. Lucinda Hawksley ist die Urururgroßenkelin des Schriftstellers Charles Dickens. Und dieses Haus, in dessen Flur sie nun steht, ist das ehemalige Wohnhaus des berühmten Schriftstellers – "eines von vielen“, ergänzt Kuratorin Emma Harper, die gerade eine neue Sonderausstellung über Dickens’ Freundschaft zum britischen Autor Wilkie Collins vorbereitet. 

Als Charles Dickens mit 24 Jahren in die Doughty Street einzog , war das bereits seine 22. Wohnadresse.

Emma Harper Kuratorin Dickens Museum

Heute ist es die einzige seiner vielen Londoner Residenzen, die noch besteht.

Von den Dutzenden Häusern, die sich in der Doughty Street heute eng aneinanderschmiegen, war das Wohnhaus damals nicht umgeben. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es hier vor allem Felder, verrät die Kuratorin. Vom Norden klang das Gehämmer der in Bau befindlichen Bahnstation Euston. Dazu kam der Nebel. „Wir haben letztes Jahr eine Ausstellung zu London im Nebel gemacht. Und dabei vor dem Eingang eine Nebelmaschine aufgebaut“, erzählt Harper. "Und mir war ja gar nicht bewusst, wie sehr dieser Nebel überall hindringt. Unglaublich!“

Ernste Entstehungsgeschichte

Obwohl wir Dickens’ Weihnachtsgeschichte mit der Leichtigkeit der Vorweihnachtszeit verbinden, uns von den drei Geistern unterhalten lassen und das Happy End des geläuterten Scrooge genießen, hat die Geschichte eine ernste Entstehungsgeschichte. Und diese führt zurück in Dickens Kindheit.

 

©EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

Aufgewachsen ist Dickens in der südenglischen Stadt Portsmouth in größter Armut. Als sein Vater wegen Verschuldung verhaftet wurde, musste Charles in die Londoner Schwärzungsfabrik „The Strand“, wo er für sechs Schilling pro Woche Etiketten auf Flaschen klebte. Es war ein prägendes Erlebnis. "Es ist ein Teil von ihm“, der ihm sehr unangenehm war und den er später auch viel verheimlicht hat“, sagt Emma Harper. „Und“, ergänzt Dickens Urururgroßenkelin, „er hatte furchtbare Angst, dass ihm das wieder passieren könnte.“

Entscheidungsjahr 1843

In Folge verschrieb er sein Leben der sozialen Reform, wollte die harte Realität aufzeigen. 1843 wurde dieser Wunsch besonders virulent. Zunächst, erläutert Lucinda Hawksley in ihrem Buch "Dickens and Christmas“, war er im Mai bei der Benefizveranstaltung einer Krankenstation für ältere, verarmte Männer. Ironischerweise waren die meisten der Gäste aber äußerst wohlhabend. "Glattes, sabberndes, krummbeiniges, überfüttertes, apoplektisches, schnaubendes Vieh“, bezeichnete Charles Dickens sie später verächtlich in einem Brief. 

©Anna-Maria Bauer

Im gleichen Jahr las er einen deprimierenden Parlamentsbericht über Kinderarbeit in Großbritannien. Und im Oktober traf er in Manchester seinen kranken Neffen, der ihn zur Figur des verletzlichen Tiny Tim inspirierte (aber anders als die Romanfigur nicht überleben, sondern mit neun Jahren an Tuberkulose sterben würde).

Etwas musste getan werden, dachte Dickens. Ein politisches Pamphlet? Aber würde das genug sein? Wie nur könnte man die Massen erreichen? Die Saat der Wohltätigkeit sähen?

Kopfüber in die Idee

Das erste Mal erwähnte Dickens seine Buchidee am 24. Oktober in einem Brief an den schottischen Wissenschaftler Macvey Napier: "Ich stürzte mich kopfüber in einen kleinen Plan.“ Er schrieb die gesamte Novelle innerhalb von sechs Wochen – und das, obwohl er nebenbei weiterhin sein wöchentliches Magazin betreute“, erzählt Kuratorin Harper.

 

Sie steht mittlerweile mit der Urururgroßenkelin Hawksley im ersten Stock des Museums neben dem Star des Hauses. Dunkelbraun, mächtig und mit leicht abgenutzter Schreibfläche, die aber doch nur die Authentizität bestätigt, thront er neben dem raumhohen Bücherregal: der Schreibtisch des Schriftstellers, der eigentlich in seinem späteren Wohnsitz Gad’s Hill in der südenglischen Grafschaft Kent stand und auf dem Dickens die zwei Klassiker „Große Erwartungen“ und „Zwei Städte“ verfasste.

Immenses Werk

Sein Output war enorm: Zwanzig Jahre lang betreute er ein wöchentliches Magazin, schrieb daneben 15 Romane, fünf Novellen und hunderte Kurzgeschichten. Ein eindrucksvoller Nachlass – starb er doch schon im Alter von 58 Jahren.

Er war aus heutiger Sicht ein Workaholic. Einerseits war er getrieben, von seiner schrecklichen Kindheit, die er seinen Kindern unbedingt ersparen wollte. Andererseits war er auch einfach süchtig nach Arbeit.

Lucinda Hawskley Urururgroßenkelen von Charles Dickens

Sein Schwager, so erzählt sie weiter, habe sich später an eine Party erinnert, die in diesem Haus hier, in der Doughty Street stattgefunden habe: "Dickens hatte einen Abgabetermin, also verschwand er zunächst in seinem Arbeitszimmer. Aber dann kam er herunter. Er setzte sich in die Ecke des Salons“ – sie deutet auf die dunkelgrüne Couch – "inmitten all der Leute und schrieb einfach weiter.“

Surreale Vertrautheit

Lucinda Hawksley lässt den Blick wandern; monatelang war sie für ihr Buch "Dickens and Christmas“ in dem Haus ein und aus gegangen, hatte das Archiv durchforstet. Ist es seltsam für Sie, über einen eigenen Vorfahren zu forschen? Sie nickt. "Oh ja. Man fühlt sich irgendwie sehr nahe. Und bei manchen Fakten hält man überrascht inne und denkt: Ah, das kenne ich doch von meiner Familie.“ Als Lucinda Hawksley klein war, hätten sie immer wieder Theaterstücke aufgeführt, wenn ihre Großmutter zu Besuch kam. "Und das war genau das, was die Familie Dickens tat. Wir sind also dieser Tradition gefolgt, ohne dass wir wussten, dass es sie gab.“

©Charles Dickens Museum

Ihre überraschendste Erkenntnis im Zuge ihrer Weihnachtsrecherchen? "Viele wissen nicht, dass er eigentlich fünf Weihnachtsgeschichten geschrieben hat.“ Das heurige Jahr ist nicht nur das 180. Jubiläum der Weihnachtsgeschichte, sondern auch das 175. Jubiläum seiner Geschichte "The Haunted Man“ (dt. Der Behexte und der Pakt mit dem Geiste).

Zur richtigen Zeit

Die klassische Weihnachtsgeschichte erreichte England genau zur richtigen Zeit. Denn: Weihnachten war (zu der Zeit) tot ... Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Zugegeben, Dickens Eingangsworte auszuleihen, ist ein wenig übertrieben. Doch sie haben etwas Wahres. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Weihnachten in England zwar beliebt, aber unmodisch. Noch im Mittelalter waren die tagelangen gemeinsamen Feiern in den Hallen der Gutsherren das Highlight gewesen. Pest, das Ende der Leibeigenschaft, die Feindseligkeiten gegen den Adel, hatten dem Festmahl ein Ende bereitet. Während die einfachen Familien im kleinen Kreise zelebrierten, hatte der Adel durch den Verlust der Gastgeberrolle auch die Lust am Weihnachtsfest verloren.

 

©© Jayne Lloyd

Bis Dickens mit seiner Geschichte die Idee des Familienfestes entzündete: die Lichter, die Lieder, die Leichtigkeit einer kleinen Feier vorführte. Den Zauber des Christbaums feierte, dieser neuen Tradition, die König Albert drei Jahre zuvor erstmals ins Schloss Windsor gebracht hatte. Die Sternsinger von ihrem verstaubten Image befreite. Die Notwendigkeit des bezahlten Weihnachtsurlaubs verdeutlichte. Und nicht zuletzt den Geist der Weihnacht, die Idee vom Geben, vom Helfen jener, die nicht genug haben, institutionalisierte.

"Es ist Weihnachten!“, riefen mit Scrooge die Engländer: „Wir haben es nicht verpasst.“

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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