FILES-US-HEALTH-BIPOLAR-KANYE WEST-PEOPLE-MUSIC

Warum die Grammy-Nominierungen für ABBA und Kanye West skurril sind

Brauchen ausgerechnet Kanye West und ABBA mehr Chancen auf einen Preis? Die Akademie hat sich im Reformeifer selbst überdribbelt.

Preise zu verleihen war vor gar nicht allzulanger Zeit die leichteste Übung überhaupt: Die Ausgezeichneten signalisieren verlässlich Freude, man kann sich bei einer Gala betrinken und selbst kleine Preise können sich, mit sorgfältiger Auswahl möglichst prominenter Gewinner, rasch in der eigenen Wichtigkeit sonnen. Es war vielleicht ein bisschen zu leicht.

Wie schwierig es inzwischen geworden ist, unfallfrei Künstler auszuzeichnen, das machen die Grammys exemplarisch vor: Sie haben sich im Labyrinth dessen, was nicht mehr geht (lauter Weiße!), nie wieder gehen sollte („Bestes New Age Album“) oder in Zukunft gehen muss (ein diverser, schlauer, heutiger Preis zu sein), recht ordentlich verlaufen.

Grammy: Infos zu Nominierungen und Gala

Nominierungen
US-Musiker Jon  Batiste geht mit elf Nominierungen als Favorit in die Grammy-Verleihung, u. a. für das Album „We are“ und das Video zum Song „Freedom“. Justin Bieber („Peaches“), Rapperin Doja Cat („Kiss Me More“) und Singer-Songwriterin H.E.R. („Fight For You“) haben jeweils acht Nominierungen   
 
Gala
Die 64. Verleihung der Grammys wird am 31. Jänner kommenden Jahres in Los Angeles sein. Über die Preisträger entscheiden über 20.000 Mitglieder der Recording Academy

 

Eigen

Die Grammys sind, und bleiben, die wichtigsten Musikpreise der Welt. Sie waren aber auch immer schon ein bisschen eigen. Nicht zuletzt in den Kategorien: Die haben lange Zeit in weit über 100 Einzelwertungen das abgebildet, was vor 30, 40, 50 Jahren mal das Musikbusiness war. Bis heute gibt es einen Überhang an jenen Preisen, mit denen das überalterte Dreigestirn Rock, Pop, Klassik gewürdigt wird.

Und auch 2022 – tief im Streamingzeitalter – werden beste Album-Texte und bestes Verpackungsdesign ausgezeichnet. Ein junges Publikum, das CDs nur noch von den Großeltern kennt, bleibt ratlos zurück.

Dazu noch gab es auch rund um die Grammys jene Diskussion, die die anderen US-Preise längst erfasst und zu Reformen gebracht hat: Sie bildeten demnach weder das ab, was heute gehört wird, noch jene Menschen, die heute Musik machen.

Es gab in Folge Boykottaufrufe schwarzer Musiker, einen prominenten Rausschmiss, den Vorwurf von Interessenskonflikten und Manipulation und – wie bei den Oscars und den Emmys – schwindendes Publikumsinteresse.

Seitdem versuchen die Grammys, sich ein modernes Antlitz zu geben: Man will offen und transparent sein. Streamingzahlen zählen nun auch, ein anonymes Vorauswahl-Komitee wurde großteils abgeschafft und die Kategorien wurden verschlankt – auf, immer noch, 86.

Ganz so klappen aber will es mit dem Reformeifer nicht – und wenn man es wirklich eilig hat, verdribbelt man sich auch gerne. So hatte die Grammy-Akademie, berichtet die New York Times, einen schwierigen Montag. Nur 24 Stunden vor Bekanntgabe der Nominierungen wurden nämlich in vier wichtigen Kategorien die Anzahl der Nominierten von acht auf zehn erhöht. Gut, kann man sich denken: Das schafft Platz für weniger bekannte, aber wichtige Musiker. Das sagte auch der Chef der Plattenindustrie, Harvey Mason Jr.: Man wolle „Platz machen für mehr Musik, mehr Künstler und neue Genres“.

Nun ja, das dürfte nicht ganz geklappt haben. Mit der Erweiterung wurden vielmehr einige der größten Stars überhaupt in die Wertung genommen: ABBA, Taylor Swift, Kanye West haben jetzt neue Chancen (oder, im Fall von ABBA, die erste) auf den Grammy.

Und das Publikum hat wieder die Chance auf einen öffentlichwirksamen Streit zwischen West und Swift. Was aber, sagt Mason, natürlich gar keine Rolle gespielt hat. „Zu tausend Prozent nein“, sagt er.

Und noch eine weitere wohl gut gemeinte Änderung sorgt für Stirnrunzeln: Es werden bei den Grammys nun weit mehr jener Beitragenden gewürdigt, die heute in jeder Musikproduktion tätig sind, also Co-Autoren, Produzenten, Musiker und so weiter. Auch da ist Potenzial dafür, dass bisher weniger gewürdigte Menschen des Musikbusiness ihren Anteil am Rampenlicht bekommen.

Die Realität aber grenzt wieder ans Skurrile: Sollte Justin Biebers „Justice“ zum Album des Jahres werden, würden mehr als 100 (!) Personen einen Grammy bekommen. Bei Kanye Wests „Donda“ ist die Liste noch länger.

FILE PHOTO: Metropolitan Museum of Art Costume Institute Gala
©REUTERS / Mario Anzuoni
Georg Leyrer

Über Georg Leyrer

Seit 2015 Ressortleiter Kultur und Medien, seit 2010 beim KURIER, seit 2001 Kulturjournalist. Zuständig für alles, nichts und die Themen dazwischen: von Kunst über Musik bis hin zur Kulturpolitik. Motto: Das Interessanteste an Kultur ist, wie sie sich verändert.

Kommentare