"Mutterliebe kommt nicht mit der Geburt"

Mutterschaft. Jede zehnte Frau leidet unter einer Wochenbettdepression – die Kulturwissenschafterin Christina Wessely über ihre Einsamkeit, den Druck der Gesellschaft und die Brüchigkeit der Emanzipation.

Wenn Freunde fragen, wie es ihr geht, wird sie still. Im Rückbildungskurs sprechen die anderen Jungmütter über Ratgeber, die sie nicht kennt. Und die Liebe zu ihrem Kind will sich auch Wochen nach der Geburt nicht einstellen. Die Kulturwissenschafterin Christina Wessely hat einen geistreichen Essay geschrieben, welche Auswirkungen die Geburt auf ihre Sichtweise als Feministin und Historikerin hatte.

Im Interview spricht sie über ihre postpartale Depression sowie ein unrealistisches Mutterbild.

Seit Tagen herrscht in Frankreich Aufregung, weil Macron von der Geißel der Kinderlosigkeit gesprochen hat und die sinkende Geburtenrate auf biologische Ursachen bei Frauen zurückführt. Sind Sie wütend, wenn Sie so etwas hören?

Ich kenne den genauen Wortlaut von Macrons Äußerungen nicht, aber grundsätzlich finde ich die Forderung, Frauen mögen wieder mehr Kinder bekommen, um den Staat zu sanieren, natürlich hochproblematisch. Als Historikerin bemühe ich mich jedoch, solche Aussagen im Kontext ihrer Zeit zu verstehen und als Ausdruck wechselnder politischen Positionen und gesellschaftlicher Ziele, die immer schon auch auf dem Körper von Frauen ausgetragen wurden. Weil Kinderkriegen eben genauso wie Kinderlosigkeit eine gesellschaftspolitische Angelegenheit ist.

Ihre Erzählung handelt von einer Mutter, die nach der Geburt psychisch erschöpft ist und sich verloren hat. Schließlich wird eine postpartale Depression festgestellt: Wie viel steckt von Ihnen in dieser Figur?

Insgesamt stecken viele Erfahrungen von mir darin, auch dieser Teil. Aber insgesamt handelt es sich nicht um ein Sachbuch oder einen Ratgeber, auch um keine Dokumentation meiner persönlichen Geschichte. Es ging mir darum – ausgehend von meinen Erfahrungen  – auch Erzählungen von anderen Müttern sowie wissenschaftliche und historische Erkenntnisse in das Buch einfließen lassen, um eine Geschichte von größerer Gültigkeit zu erzählen.

Wie geht es Ihnen heute?

Wunderbar – ich bin sehr gerne Mutter und kann mir ein Leben ohne mein Kind gar nicht mehr vorstellen. Trotzdem scheint es mir auch im Rückblick nicht überraschend, dass Frauen auf die Geburt ihres Kindes mit Schmerz und Trauer reagieren. Ich finde es, und da bin ich mir mit der Protagonistin meines Buches ganz einig, eigentlich ganz verständlich ist, dass nicht jede Mutter sofort eine tiefe Liebe zu dem Kind empfindet, sondern dass die sich erst entwickeln muss. Denn der Prozess der Mutterwerdung stellt das eigene Selbstverständnis als emanzipierte Frau extrem infrage und erschüttert viele vermeintliche Gewissheiten.

Jede zehnte Frau leidet unter einer Depression nach der Geburt: Werden Jungmütter von der Gesellschaft alleine gelassen?

Manche Statistiken sprechen sogar von bis zu 15 Prozent. Obwohl so viele Frauen betroffen sind, wird das Thema postpartale Depression meiner Erfahrung nach nicht wie viele andere Themen standardmäßig in der Schwangerschaft angesprochen, etwa von Frauenärztinnen oder Hebammen. Das scheint mir schon ein generelles Problem zu sein. Es fängt aber eigentlich schon früher an: Bei den unrealistischen gesellschaftlichen Erwartungen, wie eine "normale" Mutter zu sein hat – und dazu gehört unter anderem die Idee, dass Mutterliebe quasi biologisch einprogrammiert ist und sich "natürlicherweise" einstellen muss. Wären diese Vorstellungen nicht so mächtig, wäre die Krankheit auch nicht so tabuisiert. Wir sollten akzeptieren, dass Liebe wachsen und Mutterliebe manchmal auch erst entstehen muss.

Mutterliebe kommt nicht automatisch mit der Geburt?

Genau! Bei keiner anderen Liebesbeziehung glauben wir, dass Liebe binnen Sekunden entstehen kann – und wenn, dann hält man eine solche Beziehung meist nicht für besonders stabil. Nur mit Blick auf das eigene Kind existiert zugleich dieser Mythos, dass dies nicht nur möglich, sondern auch der Normalfall sein soll.

Die Mutter in Ihrem Buch ist ein Jahr nach der Geburt komplett symptomfrei und meint, dass es sie nicht überrascht ist, dass sie krank wurde. Können Frauen verhindern, dass sie nach der Geburt in ein Tief fallen?

In meinen Augen ist das individuell kaum zu lösen. Frauen sind nach einer Geburt körperlich und seelisch in einer Ausnahmesituation: Und dann werden sie mit Vorstellungen aus Ratgebern, von Freunden und Bekannten konfrontiert, dass jetzt die wunderbarste Zeit ihres Lebens beginnen soll. Mein Buch soll ein Beitrag sein, diese Vorstellung zu kritisieren und damit vielleicht auch ein wenig dazu beitragen, dass wir ein breiteres Spektrum an Gefühlen und Reaktionen auf die Geburt eines Kindes akzeptieren.

Setzen sich die Frauen selbst zu sehr unter Druck?

Natürlich könnte man sich wünschen, dass Frauen selbst daran arbeiteten, unrealistische Mutterbilder für sich und andere zu verwerfen. Das ist allerdings enorm schwer, denn das Wesen an solchen Vorstellungen ist ja, dass die Einzelne denkt, alle anderen würden ihnen entsprechen. Dass alle anderen "normal" sind, nur man selbst eben nicht. Die Mutter in "Liebesmühe" fühlt sich ja nicht zuletzt deshalb so einsam, weil sie die Vorstellungen vermeintlich aller anderen Mütter um sich herum nicht teilt. Das Buch ist deshalb auch eine Einladung, offener über Mutterschaft als Entwicklung zu reden: Es ist okay, sich in die Rolle erst einzufinden. Man muss nicht in dem Moment schlagartig unendlich glücklich werden, indem man sein Kind zum ersten Mal in den Armen hält. Und man darf auch Trauer darüber empfinden, nicht mehr die zu sein, die man zuvor war.

Der Begriff "Regretting Motherhood" kommt in Ihrem Roman nicht vor: Wo sehen Sie die Unterschiede?

Meine Geschichte ist die Erzählung einer Frau, die es nicht bereut, Mutter zu werden, im Gegenteil: Ihr Kind ist ein absolutes Wunschkind. Genau das macht es auch so schwer: Weil sie unbedingt Mutter werden wollte, dann aber eben die gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen kann. 

Sie beschreiben die Brüchigkeit der Emanzipation: Nach der Geburt eines Kindes sind Frauen fremdbestimmt – müssten die Männer stärker in Verantwortung genommen werden?

Das Gefühl der Fremdbestimmtheit, das sich bei der Protagonistin einstellt, liegt zunächst ja in erster Linie daran, dass sie den Eindruck hat, ihre Autonomie gänzlich eingebüßt zu haben, nur noch auf ihren Körper reduziert zu sein und ausschließlich den Bedürfnissen des Kindes dienen zu müssen – und nicht, weil sie zu wenig Unterstützung vom Vater des Kindes hätte oder von ihm abhängig wäre. Aber insgesamt ist es natürlich enorm wichtig, dass Männer auch schon in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt eines Kindes, in denen Väter oft meinen, aufgrund der so engen Verbindung von Mutter und Kind ohnehin nichts tun zu können, Sorgearbeit übernehmen.

©Hanser Verlag

Die französische Philosophin Elisabeth Badinter beschreibt die Ideologie unserer Zeit als "ökologische Mutterschaft“, weil die Frauen an der Beschränkung ihrer Freiheit freiwillig mitwirken. Was wurde aus der Emanzipation?

Angesichts von Umweltzerstörung und Klimawandel beobachtet Badinter ein Zurück zur Natur, eine Rückbesinnung auf Natürlichkeit, die tatsächlich etwas Anti-Empanzipatorisches hat, insbesondere da, wo diese Dynamik auch gegenwärtige Vorstellungen von Mutterschaft und Sorgearbeit betrifft: Viele der Dinge, die in Ratgebern heute als "natürlich" und daher auch als besonders ökologisch empfohlen werden und die deshalb auch gerne und aus freien Stücken getan werden – langes Stillen, breifreie Kost und "baby led weaning", Stoffwindeln, aber auch bestimmte Spielarten der bindungsorientieren Erziehung – sind extrem zeitintensiv. Zwar können, wie es immer wieder heißt, die allermeisten dieser Tätigkeiten auch von Männern ausgeführt werden. Aber de facto bleibt aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen – Stichwort: gender pay gap – dann doch das meiste an Frauen hängen, weil sie eben weniger verdienen und daher eher zu Hause bleiben. Frauen werden auf diese Weise also gewissermaßen freiwillig zu Komplizinnen ihres Rückzuges aus Berufsleben und Öffentlichkeit.

Buch-Tipp: Christina Wessely: Liebesmühe. Hanser. 176 Seiten. 22,70 Euro

Anita Kattinger

Über Anita Kattinger

Leidenschaftliche Esserin. Mittelmäßige Köchin. Biertrinkerin und Flexitarierin. Braucht Schokolade, gute Bücher und die Stadt zum Überleben. Versucht die Welt zu verbessern, zuerst als Innenpolitik-Redakteurin, jetzt im Genuss-Ressort.

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