Royd Tolkien und sein Bruder Mike

J. R. R. Tolkiens Urenkel auf einer "unerwarteten Reise"

Jeder kennt J.R.R. Tolkien. Jetzt hat sein Urenkel Royd ein bewegendes Buch über die letzten Jahre seines Bruders geschrieben, der an ALS litt. Die freizeit hat ihn interviewt.

Er sprang über Klippen und aus Flugzeugen, ging im Stringtanga Snowboarden und reiste in Gandalfs Originalkostüm nach Neuseeland. Nein, Royd Tolkien ist kein Spinner und auch kein notorischer Draufgänger und schon gar niemand, der unbedingt auffallen will. Im Gegenteil, er ist klassisch britisch zurückhaltend und kümmert sich lieber in seinem Garten in Wales um die Rosen, als sich in gefährliche Abenteuer zu stürzen oder schräge Streiche zu spielen.

Beim Erfüllen der letzten Wünsche seines Bruders Mike wurde Royd Tolkien, Urenkel von J.R.R. Tolkien, einiges abverlangt

©Royd Tolkien

Royd Allan Reuel Tolkien, wie er mit vollem Namen heißt, ist der Urenkel des Schöpfers eines der meistverkauften Bücher aller Zeiten: Sagenhafte 150 Millionen Mal ging J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“ über den Ladentisch. Aber es ging Royd Tolkien auch nicht darum, Heldentaten zu vollbringen, wie die Charaktere in den Büchern seines Urgroßvaters. Alles, was er macht, tut er für seinen Bruder, der an ALS, einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, gestorben ist. Dieser Bruder, Mike, hinterließ ihm eine Bucket-List mit 50 Aufgaben, die er zu erledigen hatte. Darüber hat Royd Tolkien einen Film gedreht und nun auch ein Buch geschrieben: „Ein Ende mit Anfang“, in Anspielung an ein Werk seines berühmten Vorfahren nennt er es auch „Die unerwartete Reise zweier Brüder“ in der Unterzeile.

Royd, Mike und Mikes Freundin Laura, die die Bucket List verwaltete und Aufgabe für Aufgabe an Royd weitergab 

©Royd Tolkien

Tolkien beschreibt darin nämlich keinesfalls nur die vielen Herausforderungen, denen er sich im Gedenken an seinen Bruder stellen muss. Wir lernen hier zwei Brüder sehr genau kennen, wie sie von klein auf immer füreinander da sind. Wie sie in allem, was sie tun, miteinander konkurrieren, wobei der jüngere, wildere, im Lauf der Zeit zunehmend die Oberhand bekommt. Und wie sie noch enger zusammenwachsen, als eben dieser jüngere, wildere mit einer Diagnose konfrontiert wird, die einem Todesurteil gleichkommt. Die ersten Muskelkrämpfe, die Unsicherheit, womit man es hier zu tun hat, nach über einem Jahr die traurige Gewissheit. Gemeinsame Reisen, so lange es noch geht, Gespräche, Erinnerungen – bis Mike schließlich nur noch die Augen bewegen kann.

Liebe über den Tod hinaus

Aber auch als das Ende unausweichlich näher rückt, gibt es noch Momente größter Innigkeit. Und dann natürlich das Vermächtnis des Bruders. Der damit auf die Krankheit aufmerksam machen wollte – und verhindern wollte, dass sein großer Bruder sich aufgibt.

Für seinen Bruder Mike trennte sich Royd Tolkien sogar von seinen geliebten langen Haaren

©Royd Tolkien

Und nicht alles ist eine Mutprobe, was der tote Mike seinen Bruder tun lässt. So überrascht er den seinem Wunsch entsprechend als Gandalf verkleideten Royd auf seinem Flug nach Neuseeland mit einer Durchsage, die der Pilot plötzlich durchgibt. „Hier kommt die vierte Aufgabe für Royd Tolkien. Dies sind die Worte seines verstorbenen Bruders Mike: Du musst die Leute bitten, sich mit dir fotografieren zu lassen. Du brauchst insgesamt neununddreißig Fotos. Ich möcht , dass du nicht weniger als neununddreißig lachende Gesichter festhältst. Neununddreißig, genau die Anzahl der Jahre, die ich dich geliebt habe, Bruderherz.“

Noch nach seinem Tod versuchte Mike seinem Bruder zu helfen. Er brachte Royd Tolkien sogar zum Fliegen

©Royd Tolkien

Die "freizeit" hat mit Royd Tolkien über seine Erfahrungen gesprochen:

"freizeit": Mr. Tolkien, wie geht man mit einer Situation um, in der einem alle sagen, dass es keinen Ausweg gibt?
Royd Tolkien: Es ist die falsche Message. Alle sagen, „es gibt keine Hilfe“ oder eben „es ist ein Todesurteil“, aber wenn du das in deinen Kopf lässt, dann verlierst du die Hoffnung. Du darfst das nicht dein Leben bestimmen lassen. Wir änderten Mikes Diät, machten Physiotherapie – alles, um ihm die Tage angenehmer zu machen. Du darfst nie denken: Es hilft eh nichts.
Sucht man nach Auswegen?
Natürlich. Man durchforstet das Internet auf der Suche nach einem Silberstreifen am Horizont. Wir versuchten so viele Behandlungsmethoden, die im Endeffekt natürlich nicht Mikes Leben retteten. Aber ich glaube, sie waren dennoch wichtig. Die Hoffnung sollte nie aufgegeben werden. Vielleicht gibt es ja einen Durchbruch in der Forschung, wer weiß? Ich war dann auch in einer Klinik in Polen, die vielversprechend klang, aber da war Mikes Krankheit schon zu weit fortgeschritten ...
Es dauerte eineinhalb Jahre, bis bei ihrem Bruder schließlich ALS diagnostiziert wurde. Wie geht man mit dieser langen Zeit der Unsicherheit um?
Du fühlst dich total verloren. Die Ärzte verschreiben Medikamente, die nichts helfen, jeder macht eine andere Dia-gnose – aber auch das gehört zu dieser schrecklichen Krankheit: Es gibt keinen Weg, sie zu diagnostizieren. Erst wenn alle anderen Krankheiten ausgeschlossen worden sind, kommt man drauf: Es ist ALS. Nach etwas über einem Jahr gab's bei Mike den Verdacht, es wäre Multiple Sklerose – und nach einem anfänglichen Schock, hatten wir es schon akzeptiert, uns schlau gemacht, Behandlungen gecheckt und herausgefunden: Okay, wenn es das sein muss, werden wir damit umgehen. Aber dann kam es noch schlimmer ...
Wie haben diese letzten Jahre mit Ihrem Bruder Sie verändert?
Die wichtigste Medizin ist die Liebe. Das habe ich erkannt. Und das hat unsere Familie zusammenwachsen lassen. Es gab keinen Tag, an dem ich Mike nicht gesehen habe, ihn umarmt habe, ihm gesagt habe, wie sehr ich ihn liebe. Und, bei aller Trauer und bei allem Leiden, das diese Zeit für uns bedeutet hat: Es gab auch Momente der Innigkeit, des stillen Glücks. Als Mike sich schon kaum mehr bewegen konnte, und ich ihn umarmt habe, wenn er da seinen Kopf nur ein wenig gegen meinen gepresst hat, da waren wir einander so unglaublich nahe, und ich fühlte Freude, eine Nähe, die ich mir davor nicht hätte vorstellen können. Und noch etwas: Mein Bruder hatte so viele Dinge, von denen er glaubte, er würde sie noch machen können. Das mach ich dann irgendwann einmal – diesen Satz hab ich aus meinem Leben gestrichen.
Und dann war da ja diese Liste. Die Herausforderungen, denen Sie sich stellen mussten, haben Sie sicher auch verändert?
Meine Ängste sind natürlich nicht verflogen. Ich arbeite noch immer lieber im Garten, als mich von Klippen zu stürzen. Aber ich weiß jetzt, dass ich es kann. Ich weiß, dass ich meine Angst besiegen kann, egal, worum es geht. Und das Bewusstsein, dass ich so etwas kann, habe ich der Liste meines Bruders zu verdanken. Also ihm. Aber worum es ihm wohl ganz besonders ging, war wahrscheinlich, dass ich mich selbst nicht aufgebe. Als er starb, war ich wie gelähmt. Ich vermisse ihn heute noch jeden Tag. Aber die Liste hat mir Kraft gegeben, weiterzumachen. Sie hat mir geholfen, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, während ich mich den Herausforderungen stellte. Mike wollte mir helfen. Er wollte, dass ich etwas habe, das mich dazu bringt, weiterzumachen, wenn er weg ist. Er wollte auch, dass ich diesen Film mache und das Buch schreibe. Um Menschen auf diese schreckliche Krankheit aufmerksam zu machen, die viel zu wenig erforscht ist. Dafür setzte ich jetzt auch erstmals aktiv meinen Namen ein. Etwas, das ich bisher absolut vermieden habe. Bis auf einmal ... (lächelt)
Wann war das?
Ich bin ein Riesenfan von George R.R. Martins „Game of Thrones“ und auch von der TV-Serie. Ich wollte unbedingt einmal beim Dreh dabei sein und vor allem George R.R. Martin kennenlernen. Und das ging als Tolkien eben einfacher. George war wirklich sehr, sehr nett als wir uns trafen – und: Ich bekam eine Mini-Rolle in der Folge „Hardhome“, wo ich mit hunderten anderen Statisten an der Seite von Jon Snow gegen die White Walker und die Untoten kämpfte. Es war fantastisch!

Bewegend: Die Geschichte von Royd Tolkien und seinem Bruder Mike

©Verlag

„Ein Ende mit   Anfang – Die unerwartete Reise zweier Brüder“, von Royd Tolkien (Topicus Verlag, 410 Seiten, 9,99 €)

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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