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Warum wir uns und andere oft falsch einschätzen

Sympathischer oder einfach anders, als wir glauben. Viele von uns haben noch nicht genug Bekanntschaft mit sich selbst gemacht.

Menschen finden einander oft sympathischer, als sie denken. Studien zum "Liking Gap", auch Sympathielücke genannt, legen nahe, dass wir andere – vor allem beim ersten Kennenlernen – meistens  sehr okay finden, gleichzeitig aber annehmen, dass dieser positive Eindruck oft nicht gegenseitig ist. Ein Hinweis auf ein Missverhältnis im Selbstbild. Aber warum nehmen uns andere überhaupt anders wahr, als wir uns selbst sehen?

Psychologin Natalia Ölsböck erklärt dies mit den unterschiedlichen Anteilen, aus denen unser Ich besteht. Denn wir zeigen nicht immer sofort alle Facetten unserer Persönlichkeit und passen uns an, wenn wir einen guten Eindruck machen wollen. "Dabei sind uns die unterschiedlichen Rollen, in die wir schlüpfen, oft nicht bewusst", sagt die Psychologin. "Erst wenn wir darüber nachdenken, merken wir: Wir verhalten uns bei einer Freundin anders als bei der Mutter oder gegenüber Fremden."

Viele von uns haben zudem noch nicht ausreichend Bekanntschaft mit ihrem eigenen Selbst gemacht. Das kann zu "blinden Flecken" in der Selbstwahrnehmung führen. "Bestimmte Aspekte werden uns erst bewusst, wenn wir über unser Selbst reflektieren, unsere Stärken und Schwächen erkennen und uns mit dem Feedback anderer auseinandersetzen", erklärt Ölsböck. Diese Arbeit mit sich selbst lohnt sich. "Je mehr das Selbst- und das Fremdbild übereinstimmen, desto stabiler wird unser Selbstwert – und das wirkt sich positiv auf unser mentales Wohlbefinden aus."

Bereits der  Harvard-Psychologe und Philosoph William James (1842-1910) betonte die  Bedeutung, das Gegenüber seit der Urzeit  richtig einschätzen zu können, sicherte es doch das Überleben. Doch was ist letztlich wichtiger: genauer hinzusehen, um andere besser zu verstehen, oder sich selbst mehr zu zeigen? "Beides ist sinnvoll und erfordert eine gewisse Anstrengung", sagt Natalia Ölsböck. Genaues Hinsehen bedeutet, anderen vorurteilsfrei zu begegnen, während es manchmal Mut braucht, sich zu zeigen. "Man muss sich nicht sofort völlig öffnen, aber das, was man zeigt, sollte echt und ehrlich sein."

Hier schreiben Autoren und Redakteure abwechselnd über Dinge, die uns alle im Alltag beschäftigen.

Annemarie Josef

Über Annemarie Josef

stv Chefredakteurin KURIER freizeit. Lebt und arbeitet seit 1996 in Wien. Gewinnerin des Hauptpreises/Print bei "Top Journalist Award Zlatna Penkala (Goldene Feder)" in Kroatien. Studium der Neueren Deutschen Literatur in München. Mein Motto: Das Leben bietet jede Woche neue Überraschungen.

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