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Dolce Vita-Sounds in Neon-Bunt: Warum Italo-Disco wieder angesagt ist

Drumcomputer, Synthesizer, Sonnenbrille: Italo-Disco war der Ferien-Soundtrack der 80er – dann wurde er peinlich berührt unter den Teppich gekehrt. Jetzt sind die Billig-Beats wieder da!

Es klingt, als würde Giorgio Moroder auf einem Tretboot sitzen und über das Mittelmeer singen. Vielleicht trägt er ein Netzleiberl. Oder ein Hemd, bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Vielleicht hat er auch einen rosa Cocktail in der Hand. So oder so: Italo-Disco ist zurück. Und zwar mit Synthie-Power, Retro-Chic und mehr Glanz als jeder Selfie-Filter. 

Muss auch so sein, Songs wie Gazebos „I like Chopin“ oder Ryan Paris’ „Dolce Vita“ verpflichten einfach. Unter der Neon-Sonne italienischer Diskotheken entstand in den frühen 1980ern dieser ganz eigene, typische Sound, der ganz Europa flutete und sogar über den großen Teich bis in die USA schwappte.

Es war eine schier unwiderstehliche Mischung aus Billigbeats, Herzschmerz und Sonnenöl, die damals für Furore sorgte.

Die Sizilianerin Marcella Bella, so sagt man, sei mit ihrem 1982er-Hit „Nell'aria“ als Wegbereiterin für das Phänomen gewesen. Sie war schon seit 1972 mit der Power-Ballade „Montagne Verdi“ ein veritabler Popstar, zumindest bei unseren Lieblingsnachbarn wurde - aber hat sie tatsächlich auch Italo-Disco erfunden? 

Außerdem lest ihr in dieser Geschichte noch:

  • Wer hat's erfunden?
  • So klingt Italo-Disco!
  • Deshalb fahren jetzt alle wieder darauf ab

Dem würden zum Beispiel Pino D'Angiò-Fans widersprechen, immerhin hat der Mann aus Pompeji mit  „Ma quale idea“ schon 1980 praktisch eine Blaupause für viele der folgenden Italo-Disco-Hits präsentiert: Spielhallen-Sounds und Synthies, dazu eine coole Bass-Line,  die ein bissl an „Rapper’s Delight“ von der legendären Sugarhill Gang erinnert.

Tut sie auch, aber eigentlich auch wieder nicht, weil in Wahrheit beide von Nile Rogers’ Chic und deren Dance-Klassiker „Good Times“ abgekupfert haben. Aber: Besser gut gestohlen als schlecht selbst zusammengeschustert – immerhin muss man geniale Dinge erst auch als solche erkennen, nicht?

Dementsprechend puzzelten Acts wie Ken Laszlo und Silver Pozzoli aus eben diesen Versatzstücken eine Reihe von Hits zusammen, „Hey Hey Guy“ für die fröhliche Fahrt mit der Vespa-Gang sei hier nur genannt oder „Around my Dream“, der später auch international gecovert wurde. 

 Dann gab’s  da noch den frühen Raf – mit „Self Control“ ein melancholischer Held auf dem Dancefloor, bevor er später zur Stimme fürs italienische Seelenleben wurde.

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Und wir wollen natürlich DIE Band nicht vergessen, die uns in den 1980ern bis in eine Disco namens "Wildschütz" in den hintersten Tiroler Alpen verfolgt hat: Righeira. 

Aus gegeben Anlass also eine Zeitreise ins Jahr 1983, nach Italien: „Moulin Rough“, „Matilda“, „Stork Club“ oder eine andere angesagte Disco in Jesolo, wir könnten aber auch auf jeder anderen Tanzfläche in Caorle, Bibione und Lignano stehen, ja sogar in einer der Metropolen wie Mailand oder Rom. Ein Song, der nur aus vier Wörtern zu bestehen scheint, die zu treibenden Tanzbeats gefühlte 176 Mal wiederholt werden – angeblich sind es nur 20, aber das kann man einfach nicht glauben! – brennt sich tief in die Gehörgänge der Touristen, die sich hier mehr oder weniger lässig unter die urlaubenden Italiener mischen und wird als akustisches Souvenir in Europa verteilt: „Vamos a la playa“. 

Was dabei völlig untergeht: „Vamos a la playa“ ist kein sonniges Partylied. Zumindest nicht inhaltlich. Im Gegenteil – die Righeira-Brüder singen darin über einen atomaren Angriff, über „explodiertes Wasser“ und „Radioaktivität in der Luft“. Die „Playa“, an die sie da wollen, ist also eigentlich eine postapokalyptische Badewanne – was dem Song aber nicht die gute Laune nimmt. Eher im Gegenteil: Die Kälte des Textes trifft auf die Hitze des Beats, und genau das macht den Italo-Disco-Zauber perfekt

Alles ist ein bisschen daneben, ein bisschen drüber, ein bisschen ironisch – oder auch einfach völlig ernst gemeint. Wer will das schon entscheiden?

Comeback mit Gucci 

Lange war der Sound mit den Plastik-Keyboard-Melodien und den programmierten Schlagzeug-Loops dann verpönt, verlacht, vergessen. Dabei war er nie ganz weg. DJs wie Italoconnection oder DJ Hell hielten das Genre auf kleiner Flamme am Köcheln. Und dann kam der große Retro-Boom: TikTok, Instagram-Reels, Serien wie „Stranger Things“ oder „We Are Who We Are“ zogen Italo-Disco-Sounds aus dem Keller zurück auf den Catwalk. In Mailand laufen Models für Gucci oder Dolce & Gabbana über den Laufsteg, während „Self Control“, „Dolce Vita“ oder „Spacer Woman“ von Charlie über die Boxen pumpen. 

Und plötzlich tanzen 20-Jährige mit gespreizten Fingern und Sonnenbrillen bei Nacht, als wäre es nie 1993 geworden. 

Der Soundtrack der Urlaubskinder von einst ist wieder da. Aber diesmal mit Instagram-Filter, aufpoliertem Klang und einem kleinen ironischen Augenzwinkern. Statt auf den Walkman wandertdie Playlist heute auf Spotify, statt auf den Club-Mix auf den Werbespot. Und während früher die Casio-Sounds aus kleinen Heimstudios kamen, liefern heute internationale Producer bewusst diesen leicht schrägen, charmant amateurhaften Touch, der das Genre so besonders macht.

Und ganz am Rand oder vielleicht eigentlich auch am Ursprung der Italo-Disco-Welle steht Onkel Giorgio Moroder. 

Kein Teil davon, aber so etwas wie der pulsierende Urknall, der alles vorbereitet hat: Noch bevor die Italiener auf die Idee kamen, Drumcomputer mit Sonnenöl zu mischen, hatte Moroder längst vorgemacht, wie Synthesizer, simple Hooks und elektronische Sehnsucht klingen können – in München, mit Donna Summer und „I Feel Love“.

Dass er heute auf TikTok-Playlists zwischen Righeira und Gazebo landet, ist vielleicht ein Missverständnis – aber ein sehr tanzbares. 

Und wer weiß: Vielleicht sitzt er wirklich irgendwo auf einem rosa Tretboot. Im Netzhemd. Mit Sonnenbrille. Und denkt sich: „Endlich haben sie’s kapiert.“

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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