Der Schneider lehnt an einem Regal, in dem zusammengefaltete Stocke liegen. Die Arme hat er verschränkt, er hat einen Anzug an und um den Hals hängt ein Maßband.

Einer der letzten Herrenschneider Wiens schenkt Martini aus

Bei Michael Possanner aus Wien-Döbling bekommt man einen Maßanzug, der ein Leben lang hält. Und den einen oder anderen Cocktail.

Wer hier Maß nehmen lässt, darf später mit einem Martini rechnen – direkt aus dem Tiefkühler, mit exakt zwei Tropfen Wermut, nicht mehr. Cocktails sind die eine Leidenschaft Michael Possanners. Die andere – und sein Beruf – ist das Maßschneidern.

In seinem Atelier am Saarplatz in Wien-Döbling türmen sich Textilien: grauer Kreidestreifenstoff, Tweed, buntes italienisches Leinen. An den Wänden blicken Herren mit gestrengem Blick und faltenfreiem Revers aus alten Porträts. Dazwischen: eine gut bestückte Hausbar – für nachher. Eine Uhr tickt – und schlägt. Hier hat Zeit Gewicht. 

Michael Possanner ist einer der letzten klassischen Herrenschneider Wiens. Mit Nickelbrille und Dreiteiler sieht er aus wie direkt aus einem englischen Club importiert – oder wie man sich einen Schneider im 19. Bezirk vorstellt. 

So lange dauert die Lieferzeit für einen Maßanzug

Wer sich von ihm einkleiden lassen will, braucht Geduld. „Die normale Lieferzeit beträgt drei bis vier Monate“, sagt er. Und das aus gutem Grund: „Wir machen hier alles mit der Hand. Am ganzen Anzug sind fünf Nähte maschinell.“ Wir, das sind er, ein Heimarbeiter und ein Schneider auf Abruf.

Das Atelier mit Lehnstühlen, schweren Teppichen, Bücherregalen und einer Kleiderpuppe, die einen Zylinder aufhat.

Ein Blick ins elegante Atelier am Saarplatz in Wien-Döbling 

©kurier/Martina Berger

Wer bei Possanner einen Anzug bestellt, beginnt nicht mit dem Maßband – sondern mit grundsätzlichen Fragen. „Wollen wir etwas für die Hochzeit? Einen Smoking? Oder ein legeres Leinensakko?“ Erst wenn der Anlass geklärt ist, geht es ins Detail: „Steckt der Herr viel ein? Soll das Sakko tailliert sein – oder lieber gerade?“

Possanner selbst strebt nach der „goldenen Mitte“. Sie sei fürs Auge am schmeichelhaftesten – und vor allem zeitlos. Für den modischen Slim-Fit kann er sich wenig erwärmen. „Nicht so wie beim ehemaligen Kanzler Kurz mit seinen kurzen Sakkos.“

Das kostet der Anzug bei Possanner

Ein Dreiteiler kostet bei Posanner rund 5.500 Euro, Sakko und Hose etwa 4.500. Der Stundenlohn liegt bei 70 Euro. „Viele Kunden sagen: Das ist eigentlich viel zu billig“, erzählt er. „Aber mit 120 Euro pro Stunde – das verkauft man in Österreich nicht.“ 

Kunstfasern kommen ihm nicht in die Werkstatt. Die Stoffe, die er verarbeitet, stammen aus europäischen Webereien, gewebt aus Wolle, die von Tieren stammt, die in Europa geschoren wurden. Er liebt Italien für seine Farbenfreude. England für seine Gravitas. Mal grüner Stoff fürs Sakko mit rosa Krawatte und gelbem Stecktuch, dann wieder nüchterner Nadelstreif. „Ein bisschen was von beiden.“

Seine Kundschaft ist so vielfältig wie die Stoffe, die sich in seinem Atelier stapeln. Da sind jene, die sich für besondere Anlässe ein besonderes Stück gönnen. Andere bringen einen Stoff vom Urlaub in Italien mit – feines Leinen oder weicher Flanell – und lassen daraus einen Anzug fertigen. Manche kommen, weil Konfektionsware für sie schlicht nicht passt: Wirbelsäulenerkrankung, ungleich hohe Hüften. Und dann gibt es jene, für die Kleidung mehr ist als Notwendigkeit – die Mode sammeln, zelebrieren, inszenieren.

Die Kunden kommen aus den USA bis Dubai

Possanners Kunden kommen nicht nur aus Österreich. Sie reisen auch aus den USA, Italien oder Großbritannien an – und darüber hinaus. Gerade erst hat ein Kunde aus Dubai bei ihm Maß genommen. „Der hat mich über Instagram gefunden.“

Der Schneider hält einen Stoff in der einen und eine Schere in der anderen Hand. Mit ihr wird er die Muster, die mit Kreide aufgezeichnet ist, abschneiden. Im Hintergrund: Stoffberge.

Possanner beim Zuschneiden des Stoffes für einen Anzug. Das Schnittmuster hat er zuvor mit der Kreide aufgezeichnet. Die Schere, die er benutzt, ist mindestens 100 Jahre alt und hat er aus dem Fundus eines alten Schneidermeisters.

©kurier/Martina Berger

Dass Possanner einmal Maßanzüge für Kunden aus Dubai näht, war vorgezeichnet, aber sollte doch eine Weile dauern. Die Faszination begann schon früh – und wurde durch ein prägendes Kindheitserlebnis verstärkt. „Ich war immer zu schmal, zu klein“, erzählt er. „Und mir passten die handelsüblichen Faschingskostüme vom Zauberer bis zum Cowboy nicht.“ 

Für eine Faschingsfeier schnitt der Vater eine Jeans ab, gab ihm Hosenträger und malte ihm eine rote Nase. „Du gehst als Clown“, habe es geheißen. Alle lachten. Possanner schwor: „Das passiert mir nie wieder. Eines Tages mache ich mir die Sachen selbst.“

Das letzte Mal trug ich eine Jogginghose im Spital Ende der Neunziger. Sie ist im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt und einstecken kann man nichts.

Michael Possanner Maßschneider

In den USA – sein Vater arbeitete im diplomatischen Dienst – belegte er in der Schule das Fach „Industrial Art“ und lernte das Nähen mit der Maschine. Schneider wurde er dennoch nicht. „Zuerst machst du die Matura“, hieß es daheim.

Vom legendären Kniže zum eigenen Atelier in Döbling

Dann folgten einige Jahre im Verlagswesen, Possanner schrieb kleinere Geschichten. Eine über Herrenschneider in Wien führte ihn schließlich zu Kniže – der legendären Schneiderei am Graben. „Die Auftraggeber wollten den Artikel nicht. Zu klassisch, zu wenig trendy“, hieß es. Possanner dürfte das egal gewesen sein, er fing – mit Ende 20 – bei Kniže an und machte die Ausbildung zum Schneider.

Mit Ende 30 wagte Michael Possanner den Schritt in die Selbstständigkeit. Er wollte seinen eigenen Stil durchziehen und auf leichtere Stoffe setzen. Dazu wollte er ein Atelier mit der Atmosphäre eines britischen Clubs: Bücher über gutes Benehmen, über gute Kleidung. Lehnsessel. Jagdbilder und natürlich: eine Bar.

Für Possanner ist gute Kleidung kein Luxus – sondern Respekt. Vor dem Anlass. Vor dem Gegenüber. Und vor sich selbst. In Florenz zollten ihm drei Fremde mit einem Hutziehen und einer Verbeugung auf der Straße Respekt. Possanner hatte seine Frau zum Hochzeitstag ausgeführt. „Das war schön.“

Und er bedauert auch, dass Eleganz nicht mehr so gefragt ist. „Ein italienischer Kunde war schockiert, als er in Wien in der Staatsoper neben einem Burschen in T-Shirt und Jeans saß“, erzählt der Schneider, den leidenden Italiener imitierend – und es wirkt, als könne er sein Wehklagen nachvollziehen.

Eine gut bestückte Bar auf einem Sekretär. An der Wand hängen englische Jagdbilder

Die Bar des Meisters. Possanner legt Wert auf gute Cocktails.

©kurier/Martina Berger

Corona hat dem Dresscode eine „Watsche verpasst“, wie er sagt. Aber es kommen junge Kunden. Nachhaltigkeitsbewusst, qualitätsverliebt. „Sie wollen keine Fast Fashion mehr. Sondern etwas, das man zwei, drei Generationen tragen kann.“ Seine Stücke können, was Konfektionsware nicht kann, sie wachsen bei Bedarf und nach zu viel Völlerei: „Der Anzug hat Einschläge – wir können die Ärmel um acht Zentimeter verlängern und bis zu zwölf Kilo Spielraum einplanen.

Dunkelblau ist am stärksten gefragt. „Das ist immer eine sinnvolle Wahl, es kann vielseitig getragen werden.“

In Jogginghose wird man Possanner so gut wie nie sehen. „Das letzte Mal im Krankenhaus Ende der Neunziger. Die ist im Sommer heiß, im Winter kalt und einstecken kann man auch nichts.“

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember 2020 über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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