Was passiert, wenn Sex und Liebe abhängig machen
Manisches Verlieben, quälende Lust: Die Sucht nach Sex oder Liebe verhindert Bindung und Beziehung. Ein Betroffener und ein Psychotherapeut über eine spezielle Form von Abhängigkeit.
Süchtig nach Liebe, süchtig nach Sex: Alex (Name von der Red. geändert), Vater von drei Kindern, kennt beides. Sein Leben war geprägt von Internet-Pornografie, diversen Affären und gescheiterten Beziehungen.
„Schon als Kind war ich auf Frauen fixiert“, erzählt er. Seine erste Liebe geriet zur Obsession, in den Teenagerjahren kam exzessives Masturbieren dazu. „Sowohl Sex- und Liebessucht haben im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausdrucksformen angenommen, mein Liebesleben war dabei immer wichtiger als meine Familie, mein Job, ich mir selbst“, schreibt Alex im Mail-Interview. Er möchte anonym bleiben, beschreibt sich als eher schüchtern und introvertiert.
Experten definieren Liebessucht als Zustand, der durch eine überwältigende Besessenheit und Abhängigkeit von romantischen Partnern gekennzeichnet ist. Das führt häufig zu großem Stress und Beeinträchtigungen des Alltags. Als pathologischer Zustand ist sie dennoch umstritten. „Eine Diagnose im wissenschaftlichen Sinn existiert nicht, man würde sie eher in den Bereich Verhaltenssüchte einordnen. Dabei geht es um die Intensität des Empfindens, den Kick der Verliebtheit und des Anfangs", sagt Stefan Bienenstein, Psychotherapeut und Suchtexperte. Das sei sehr verführerisch, weil es auf den ersten Blick zwar nach einer Beziehung aussieht und auch nach echter Verliebheit. „Doch das, was Beziehung ausmacht oder möglich machen würde, kommt gar nicht erst zustande. Im Gegenteil: Es muss möglichst romantisch bleiben, wie ein Rausch.“
Die Folgen sind für die Betroffenen oft sehr dramatisch, weil sie nicht fähig sind, eine sich vertiefende Liebesbeziehung zu „halten“ und weiterzuentwickeln. Stattdessen brauchen sie vor allem das Erleben intensiver, romantischer Gefühle.
Und was unterscheidet Liebessucht von Sexsucht?
Fass ohne Boden
Sexsucht, auch „Hypersexualität“ genannt, wird in der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) den sexuellen Funktionsstörungen zugeordnet, im neuen System ICD-11 gilt sie als Impulskontrollstörung. Um den „Kick“ geht es hier ebenso. Dabei spielt vor allem der Neurotransmitter Dopamin eine zentrale Rolle. Ein „Belohnungsbotenstoff“, der beim Sex ausgeschüttet wird, für Momente glücklich und euphorisch macht, von dem der Süchtige aber nie genug bekommen kann. Intensität ist alles – das Dopamin führt dazu, immer mehr davon zu wollen. „Außerdem muss Sexualität hier für unterschiedlichste Bedürfnisse herhalten, das Gefühl von Geborgenheit etwa. Da wird alles in den Akt hineinverfrachtet“, so Bienenstein. Ein „Fass ohne Boden“ sei das: „Es braucht immer mehr, das Wesen von Sucht ist, dass sie Bedürfnisse niemals stillen kann. Erst, wenn der Leidensdruck zu groß ist, wird Veränderung möglich.“ Wie bei Alex.
"Es musste etwas geschehen"
Als seine zweite Frau schließlich die Scheidung einreichte, war klar: Es musste etwas geschehen. „Der Anfang meiner Genesung. Ich wollte endlich der Vater werden, der ich nie war“, erzählt er. Nach einer Reha und dem Start einer Therapie trat er einer Selbsthilfegruppe bei, die er bis heute besucht und wo er sich nach wie vor aktiv engagiert. Trotzdem kein einfacher Weg, der erste Genesungsversuch scheiterte: „Es gelang mir zwar, über einen längeren Zeitraum trocken zu bleiben, doch in Wahrheit habe ich immer versucht, irgendwo zu scoren. Es ist wie bei Drogen und anderen Süchten, das High ist toll und groß.“ Dieses Tun bezeichnet er im Rückblick als „obsessiv“, manchmal war die Liebessucht stärker, manchmal die Sexsucht, wie auch immer: „Ich richtete mein Leben vor allem nach den Frauen, habe mein eigenes Leben nicht gelebt, sondern das der Geliebten. Meine Stimmung stieg und fiel mit der Beziehung“, schreibt Alex. .“
Alex Geschichte passt gut zu einer neuen Studie, die vor Kurzem von italienischen Forschern im Magazin „Psychology & Sexology“ veröffentlicht wurde, mit dem Ziel, Liebessucht von gesunder, leidenschaftlicher Liebe abzugrenzen. Aber auch, um herauszufinden, ob unsichere Bindungsstile wie ängstliche oder vermeidende Bindung, dazu führen könnten, dass Menschen anfälliger für die Entwicklung eines solchen Suchtverhaltens sind. Es zeigte sich eine starke Korrelation zwischen leidenschaftlicher Liebe und Liebessucht. Jene Personen, die Aussagen wie etwa „Manchmal habe ich das Gefühl, meine Gedanken nicht kontrollieren zu können, sie kreisen obsessiv um meinen Partner“ zustimmten, erzielten höhere Werte auf der Liebessucht-Skala. Teilnehmer mit unsicheren Bindungsstilen, speziell solche mit ängstlicher Bindung, zeigen eine höhere Neigung zu Liebessucht, dabei ist das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung sehr groß. Dieser Bindungstyp ist durch eine eher unsichere Persönlichkeitsstruktur gekennzeichnet.
All diese Erkenntnisse untermauern, was Alex in den Jahren in der Selbsthilfegruppe erlebt hat, sie scheinen auch für die Sexsucht zu gelten: „Die meisten kommen, weil sie der Pornografie- oder Masturbationssucht verfallen sind, das ist was heraussticht. Doch im Hintergrund geht es oft um Sucht nach Beziehung und nach Anerkennung." Bei allen stimme etwas nicht mit dem Verhältnis zu sich selbst, die meisten erzählen von einer emotional schwierigen Kindheit. "Auch meine Mutter war eine emotional kalte Person.“
Ein wesentlicher Schritt Richtung Genesung war, zu erkennen, dass es für ihn keinen Unterschied macht, warum er ist, wie er ist und er all das gemacht hat: „Es zählt einzig, dass ich es erkannt und ich mich ehrlich und offen kennengelernt habe.“ Seiner Obsession versucht er, mit einem spirituellen Leben Einhalt zu gebieten.
Menschen mit Liebes- und/oder Sexsucht finden hier Unterstützung und Hilfe:
Anonyme Sexsüchtige Österreich, Selbsthilfegruppe SLAA, Genesung nach dem 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, CoDA, Selbsthilfegruppe für gesunde Beziehungen
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