
Tim Raue: „Ich war früher der Arsch in der Küche“
Tim Raue hat im Berliner Fernsehturm das Restaurant Sphere eröffnet, in dem er deutsche Klassiker serviert. Der Sternekoch über deutsche und österreichische Küche – und den richtigen Umgangston.
Tim Raue ist zweifacher Michelin-Stern-Koch und hat zehn Restaurants. Er ist oft auf Reisen, lebt zeitweise in Graz und ist regelmäßiger Gast in Tim Mälzers TV-Duell „Kitchen Impossible“ sowie in der Koch-Castingshow „The Taste“. Zudem ist er ein beliebter Interviewpartner, da er knackige Zitate liefert.
Zuletzt sprach er im Polit-Podcast des Magazins Cicero über Berufspolitiker, die in ihrem Leben nie richtig gearbeitet haben, und über eine Gesellschaft, die zu bequem geworden sei. Der KURIER freizeit erklärt er, warum er dennoch kein Politiker werden könne.
In Ihrem neuen Lokal Sphere im Berliner Fernsehturm steht die deutsche Küche im Vordergrund. In Österreich ist es fast Folklore, sich über die deutsche Küche lustig zu machen. Warum ist die so unterschätzt?
Tim Raue: Ich finde nicht, dass sie unterschätzt wird. Die Frage ist vielmehr: Wie definiert man sie? In Österreich gibt es eine andere Situation. Die Gasthausküche ist dort absolut verbreitet und funktioniert extrem gut. Die Hochküche hat außerhalb von Wien hingegen ihre Probleme.
Inwiefern?
Wenn man sich das prozentual ansieht, ist die Spitzengastro geringer. Ich pendle seit acht Jahren nach Graz, meine Frau ist Grazerin. Dort gibt es ein Ein-Sterne-Restaurant – das ist für die zweitgrößte Stadt Österreichs nicht gerade viel. Andererseits kann ich in Berlin sofort zehn herausragende chinesische und 20 vietnamesische Restaurants nennen. Aber ich tue mir schwer, ein Restaurant zu empfehlen, in dem man Königsberger Klopse, Schweinsbraten oder Broiler – also Brathendl – essen kann.
Ich möchte den Rechten nicht überlassen, stolz darauf zu sein, Deutscher zu sein.
Warum haben Sie sich entschieden, diese Küche aufleben zu lassen?
Im Jahr 2013 habe ich mit dem La Soupe Populaire die Berliner Küche gefeiert – Gerichte meiner Großmutter, die ich selbst gern gegessen habe. Das Konzept habe ich in wechselnden Restaurants fortgeführt. Als der Fernsehturm kam, ein kulinarisches Wahrzeichen mit 1,1 Millionen Besuchern jährlich, war mir klar: Ich wollte keine Burger oder Gnocchi servieren, sondern deutsche Küche zeigen – für Touristen wie für Einheimische.

Tim Raue kocht auf über 200 Metern Höhe: im Restaurant Sphere des Berliner Fernsehturms, das sich noch dazu dreht. Serviert werden Gerichte, die er in seiner Kindheit gerne gegessen hat.
©Nils HasenauWarum ist die deutsche Küche nicht so präsent?
Wir Deutschen haben ein Problem mit unserer nationalen Identität. Wir haben kein gesundes Verhältnis dazu. Alles, was nationale Identität definiert, wird sofort in eine rechte Ecke gerückt. Das finde ich fatal. Ich möchte den Rechten nicht überlassen, stolz darauf zu sein, Deutscher zu sein. Für mich bedeutet dieser Stolz als Liberaler etwas anderes: Wir sind ein wunderbares Land der Unternehmer. Wenn wir hier nicht so gut verdienen, könnten wir auch nicht nach Österreich fahren, um die besten Schnitzel zu essen.
Liegt es also daran, dass ur-deutsche Gerichte verschwunden sind, weil man sich nicht viel zugesteht?
Nicht nur. Wir haben einen Generationenkonflikt. Bei meinen Großeltern war alles noch klar aufgeteilt: Opa hat gearbeitet, Oma hatte einen Halbtagsjob und übernahm gleichzeitig die Verpflegung der Familie. Sie hat jeden Tag für meinen Opa Frühstück gemacht und eine Mahlzeit gekocht. Wenn ich mir dann meine Eltern anschaue – die waren geschieden – hat sich schon niemand mehr wirklich ums Essen gekümmert.
Sie sind bekennender Liberaler und haben zuletzt etwa im Cicero-Podcast Ihre Ansichten mit Nachdruck kundgetan. Wie kommt das in einer Stadt wie Berlin an?
Es gibt viele Unternehmer, die meine Gedanken teilen und sagen: Schön, dass das mal jemand so offen ausspricht. Und es gibt genauso viele, die das völlig anders sehen – das ist ihr gutes Recht. Die Frage, die sich mir im Gesamtkontext stellt, ist: Ist den Menschen, die für Dinge plädieren, für die ich nicht stehe, klar, was es bedeutet, in einem Sozialstaat zu leben? Ist ihnen bewusst, dass sie in einem Maße verwöhnt aufgewachsen sind, weil die Generationen vor ihnen hart gearbeitet haben?
Wer soll unterstützt werden?
Es gibt genug Menschen in unserem Land, die es verdient haben, sozial unterstützt zu werden. Gar keine Frage: Dagegen habe ich nichts. Ich habe auch nichts gegen Flüchtlinge, die aus Ländern kommen, in denen sie verfolgt werden – sei es politisch, wegen ihrer Hautfarbe oder weil sie anders denken. Nur: Wenn wir ihnen die Tür öffnen, dann muss klar sein, dass sie hier Teil dieses Landes werden. Das bedeutet eben auch, dass sie sich anpassen – an unsere Art zu leben und an unsere Strukturen. Es darf nicht sein, dass in Schöneberg, wo eine große Gay-Community lebt, Menschen nicht mehr Hand in Hand spazieren gehen können. Oder dass ein jüdisches Restaurant schließen muss, weil dort regelmäßig die Scheiben eingeworfen werden. Das Problem ist doch, dass genau solche Zustände die Parteien am rechten und linken Rand stärken.
Im Berliner Nobelhart & Schmutzig gibt es ein AFD-Verbot. Käme für Sie in Frage, dass Sie Wähler und Politiker der AFD oder der Linken nicht bedienen?
Ich werde niemals einen Menschen aufgrund seiner Religion, Hautfarbe, Sexualität oder politischen Gesinnung ablehnen. Mir geht es um Diskurs. Wenn ein Gast bei mir sitzen würde und sagt, er wolle nicht von einer Kellnerin oder einem Kellner mit dunkler Hautfarbe bedient werden, wäre der Abend für ihn sehr schnell beendet. Spannender ist es für mich aber, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Das ist mir auch schon passiert: Jemand sagt, er habe AfD gewählt. Dann frage ich: Ist Ihnen bewusst, was das bedeutet? Dass beim nächsten Mal, wenn Sie hier essen wollen, zwei Drittel meines Personals nicht mehr da wären – weil diese Leute nach deren Plänen „remigriert“ werden sollen?
Ich war in einer Gang, die hierarchisch organisiert war. Das Gleiche gilt in der Küche: Ich habe sehr schnell verstanden, wie eine Küche funktioniert, und gemerkt, dass ich weniger Talent habe als andere – also musste ich härter arbeiten.
Wir haben in Österreich mit Sepp Schellhorn auch einen Koch, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. Er ist nun Staatssekretär. Reizt Sie die Politik?
Sepp ist ein Freund von mir, sein Denken finde ich fantastisch. Aber ich habe so viel Übles in meinem Leben angestellt – das würden die Medien als Erstes hervorholen, und nicht meine Leistung oder meine Gedanken.
Weil Sie Ihre Vergangenheit angesprochen haben. Sie waren Mitglied in einer Kreuzberger Jugendgang. Wie haben Sie sich als Rebell in eine Küche eingegliedert?
Rebellisch war ich gar nicht. Man stellt sich vielleicht einen zickigen Teenager vor, der mit seinen Eltern streitet – aber solche Eltern gab es nicht. Ich war in einer Gang, die hierarchisch organisiert war. Das Gleiche gilt in der Küche: Ich habe sehr schnell verstanden, wie eine Küche funktioniert, und gemerkt, dass ich weniger Talent habe als andere – also musste ich härter arbeiten. So habe ich mir schnell meinen Weg gebahnt.
Die Gastronomie hat Probleme, Personal zu finden. Wegen der Arbeitszeiten, aber auch wegen des Tons, der in der Küche herrscht. Verstehen Sie das?
Natürlich. Das ist aber auch eine Entwicklung. Ich war früher ein Arsch in der Küche: Ich konnte nichts anderes, als schreien und Druck machen. Nach vielen hundert Stunden Psychotherapie habe ich begriffen, dass ich der Inkompetente war. Ich konnte den Druck nicht bewältigen und habe ihn an meine Mitarbeiter weitergegeben.
Wann kam die Wende?
Erst als ich aufgenommen wurde und mir das Bildmaterial angeschaut habe, habe ich begriffen: Boah, was bist du für ein mieses Arschloch. Ab dem nächsten Tag habe ich hart daran gearbeitet, das zu ändern. Das ist seit Jahren kein Thema mehr – zum Glück, für alle. Ich finde es allerdings heuchlerisch, dass das medial stark in den Fokus gestellt wird. Hören Sie sich mal an, was auf einem Fußballplatz an Beleidigungen hin- und herfliegt – dagegen ist die Küche fast harmlos. Es sollte nicht so sein. Aber das Schöne ist: Wenn man das selbst erkennt, stellt man Menschen anderen Charakters ein.
Zur Person
Tim Raue
wurde 1974 in Berlin geboren. Nach schwieriger Kindheit und Jugend fand er in der Küche seine Berufung. Sein Restaurant Tim Raue in Berlin ist mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Bekannt ist er für seine asiatisch inspirierten Gerichte, TV-Auftritte und unternehmerischen Projekte. Er lebt in Berlin und Graz.
Wie war es, als sie zum ersten Mal mit Spitzengastronomie in Kontakt gekommen sind? Wenn man aus Kreuzberg kommt und in einer Gang war: Kann man damit etwas anfangen? Findet man das womöglich gar pervers?
Was soll man denn pervers finden?
Gerade früher wurde darum schon ein Getue gemacht.
Wenn Sie meinen: die Schönheit, die Liebe und die Passion, mit der Lebensmittel verarbeitet werden und die Teller, die daraus entstehen, die mich bis heute mit einer einzigartigen Magie erfüllen –, dann habe ich da nie ein Getue erlebt. Getue im Sinne von Blasiertheit empfinde ich eher als etwas Österreich-Typisches. In Deutschland, auch in Berlin, nehme ich das kaum wahr. Aber bei Österreichern habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sehr überzeugt davon sind, was sie machen – und wie sie es machen.
Wenn ich mir die Klagen über die Arbeitszeiten anhöre, sage ich: „Was machst du denn mit der übrigen Zeit? Bringt es dich im Leben weiter, wenn du jeden Tag drei oder vier Stunden auf Instagram oder Netflix verbringst?
Von außen betrachtet: Was stört Sie?
Gar nichts. Wenn Sie 1.000 Köchinnen und Köche haben, werden sich auch ein paar Idioten darunter finden. Ich habe unfassbaren Respekt vor Österreichs Umgang mit Kulinarik. Wenn ich sehe, was ich an Lebensmitteln einkaufen kann, dann ist Österreich eine Liga über uns. Ich lebe in Berlin und verbringe dort den Großteil meiner Zeit – da komme ich gar nicht erst auf die Idee, groß einzukaufen. Das liegt auch daran, dass ich in meinem Umkreis 60, 70 wirklich gute Restaurants habe. In Graz kaufe ich unglaublich gern ein und koche regelmäßig für meine Frau. In Österreich gehören Essen und Trinken einfach fix zur Kultur. Das haben wir in Deutschland so nicht.
Sie haben zehn Restaurants, sorgen für Essen auf Kreuzfahrtschiffen, kochen im Fernsehen. Was treibt Sie an?
Ich komme aus der blanken Armut. Als Kind hatte ich nicht einmal eine funktionierende Heizung. Vom Essen ganz zu schweigen. Ich war fest davon überzeugt, dass ich Teil dieser Gesellschaft sein möchte – und das kann ich nur, wenn ich der Gesellschaft etwas zurückgebe, indem ich hart arbeite, sei es, um Steuern zu zahlen. Oder ich bin Mentor – deshalb habe ich einen Verein gegründet, der Jugendlichen aus Kreuzberg Praktikumsplätze in der Top-Gastronomie verschafft. Gastronomie ist ein tolles Sprungbrett – und ein geiler Job, weil man so schnell Feedback bekommt. Viele jammern mir die Ohren voll, dass sie in ihrer Branche kein Lob bekommen. Wir haben 100 Gäste, und du hast 100-mal Feedback – gut, vielleicht stehen ein paar vorher auf. Dabei kann man daraus viel positive Energie ziehen. Und man verdient nicht schlecht. Wenn ich mir die Klagen über die Arbeitszeiten anhöre, sage ich: „Was machst du denn mit der übrigen Zeit? Bringt es dich im Leben weiter, wenn du jeden Tag drei oder vier Stunden auf Instagram oder Netflix verbringst?

Tim Raue in der Kochshow "The Taste"
©Joyn/Benedikt MüllerSehen Sie sich heute mehr als Koch oder Unternehmer?
Ich bin und bleibe Koch. Natürlich bin ich auch Unternehmer – und verbringe einen Großteil meiner Zeit auf Reisen, im vergangenen Jahr waren es 217 Tage. Aber am Ende stehe ich immer in der Küche, ob ich am Kreuzfahrtschiff, bei The Taste oder im Restaurant bin. Ich entwickle noch immer alle Gerichte selbst, gemeinsam mit meinen Mitarbeitern.
Können Sie im deutschsprachigen Raum noch unerkannt wohin gehen? Werden Sie oft gestört?
Na ja – gestört würde ich nicht sagen. Die Frage ist immer: von wem. Am aufdringlichsten ist es im Flugzeug, weil die Menschen dann einfach ein Foto machen wollen. Mein Freund Tim Mälzer hat das einmal schön formuliert: Wenn du im Fernsehen in der Öffentlichkeit stehst, verdienst du sehr viel Geld – aber du gibst eben einen Teil deiner Privatsphäre ab. Damit musst du leben. Bei mir heißt das: In dem Moment, in dem ich die Tür hinter mir schließe – egal ob Hoteltür oder Wohnungstür in Graz oder Berlin – muss ich damit rechnen, dass jemand auf mich zukommt und ein Foto machen will.
Wie ist es in Restaurants?
Gäste von Nachbartischen kommen meist sehr höflich, bitten um ein Foto und wechseln zwei, drei Sätze – das ist völlig in Ordnung. Nerviger wird es manchmal bei Kollegen aus der Gastronomie: Du bestellst drei Gänge und bekommst plötzlich zwölf serviert. Richtig auf die Nerven geht es mir aber, wenn ich mit meiner Frau Date Night habe und dann jemand kommt. Das sind die einzigen Momente, in denen ich klar sage: privat.
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