Kritik

Ein neuer Roman von Simone de Beauvoir: „Sei jemand!“

„Die Unzertrennlichen“ ist wie ein Schrei und erscheint 35 Jahre nach dem Tod der Französin

Bestimmt wird jemand (zu Recht) auf die Idee kommen und sagen: Das ist wie bei der Ferrante! Wie im neapolitanischen Vierteiler mit Lila und Elena, den Freundinnen von Kindheit an. Bei Simone de Beauvoir ist es allerdings interessanter. Erstens sowieso. Zweitens: In ihrer Mädchenfreundschaft mit Zaza liegt der Beginn ihrer Entwicklung zur Feministin, zur Philosophin, zur bekanntesten Intellektuellen Frankreichs.

In der Schublade

Ihre Begegnung mit Zaza führte direkt zum Erkennen: Es ist allein die Gesellschaft, die will, dass sich Frauen verstecken, anpassen: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (aus „Das andere Geschlecht“, 1951). Und so ruft der kurze Roman „Die Unzertrennlichen“: „Sei jemand!“ Simone de Beauvoir schrieb ihn 1954, um Zaza (das war Élisabeth Lacoin) nicht zu vergessen. Ihr Lebensgefährte Sartre war nicht begeistert, deshalb blieb er in einer Schublade liegen. Ihre Adoptivtochter gestattete 35 Jahre nach Simone de Beauvoirs Tod die Veröffentlichung.

Zaza war die erste Liebe. Noch wusste Simone freilich nichts von ihrer (Bi-)Sexualität – sie waren anfangs erst neun Jahre alt, Banknachbarinnen in der Pariser Privatschule Adeline Desir. Der Erste Weltkrieg ging gerade zu Ende, Frauen hatten noch kein Wahlrecht, und in Zazas streng katholischer Familie war allen klar: Das Fleisch ist Sünde, man muss ihm davonrennen irgendwie. Dass später, mit 15, ihr erster Freund jüdische Eltern hatte, war deshalb unmöglich. Außerdem waren es in gutbürgerlichen Familien die Eltern, die eine Ehe arrangierten bzw. erzwangen.

Ehe oder Kloster

In „Die Unzertrennlichen“ wurde, worüber de Beauvoir in ihrer Autobiografie berichtet hatte, fiktionalisiert. Sie selbst ist Sylvie – und spielt im Roman nur eine Nebenrolle. Denn es geht um Andrée, das ist Zaza: Wie sie Mutter verehrte, aber unmöglich akzeptieren konnte, keine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wie sie hoffte, Gott sagt ihr, was zu tun ist. (Simone de Beauvoir verlor früh den Glauben.) Wie sie erfolglos versuchte, sie selbst zu sein. Wie Frauen im Hintergrund zu bleiben hatten, es ihnen unmöglich war, unverwechselbar zu sein – und bestenfalls entscheiden durften: Ehe oder Kloster, denn Single galt nicht als Berufung. Andrée/Zaza, so herrlich lebendig, lebte in Zwängen, und dass sie mit knapp 22 Jahren an Gehirnhautentzündung starb, hielt Simone nicht für die ganze Wahrheit: Zaza war von Schuldgefühlen zerrissen worden.

Foto oben: Simone de Beauvoir (links) mit ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre und einer Rechtsanwältin

Simone de Beauvoir:

„Die Unzertrennlichen“
Übersetzt von Amelie Thoma.
Erschienen im Rowohlt Verlag.

Erhältlich für 22,95 Euro u.a. bei Amazon.de

KURIER-Wertung: ****

Peter Pisa

Über Peter Pisa

Ab 1978 im KURIER, ab 1980 angestellt, seit November 2022 Urlaub bzw. danach Pension. Nach 25 Jahren KURIER-Gerichtsberichterstattung (Udo Proksch, Unterweger, Briefbomben) im Jahr 2006 ins Kultur-Ressort übersiedelt, um sich mit Schönerem zu beschäftigen. Zunächst nicht darauf gefasst gewesen, dass jedes Jahr an die 30.000 Romane erscheinen; und dass manche Autoren meinen, ihr Buch müsse unbedingt mehr als 1000 Seiten haben. Trotzdem der wunderbarste Beruf der Welt. Man wurde zwar immer kurzsichtiger, aber man gewann an Weitsicht. Waren die Augen geschwollen, dann Musik in wilder Mischung: Al Bowlly, Gustav Mahler, Schostakowitsch und immer Johnny Cash und Leonard Cohen.

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