Camera Girl

Madonna, Bowie, Jones: Das Camera Girl hatte sie alle auf Film

Die Achtziger waren überall provokant – doch an kaum einem Ort zeigten sie sich derart anarchisch und frei wie im New Yorker East Village. Die Fotografin Sharon Smith hat das auf ungewöhnliche Art festgehalten – und teilt die Aufnahmen nun in einem Bildband.

Manche Momente sind derart roh und doch surreal, dass sie sich für immer in unser Gedächtnis einbrennen. Für die damals 31-jährige Sharon Smith ereignete sich so ein Augenblick 1982 um drei Uhr früh im New Yorker Nachtclub Savoy. Ihre Polaroid SX-70 gezückt, ging sie durch den Club, scannte die dunklen, vibrierenden Räume für ihr nächstes Fotomotiv – und entdeckte Grace Jones. 

Die Musikikone erwiderte Sharons Blick. Langsam setzte Grace Jones ihre Sonnenbrille auf, während Sharon den Auslöser drückte. Dann flüsterte die Sängerin ein rauchiges „Thanks, love“ und verschwand wieder auf der Tanzfläche. Die Fotografin würde das Foto später um drei Dollar als Souvenir anbieten.

Mitten im verrucht-wilden, grenzenlos-bunten New York der 1980er-Jahre gelang der Amerikanerin Sharon Smith aus der Not heraus ein brillanter Coup.

Camera Girl

Der Schnappschuss von Grace Jones.

©Sharon Smith

Inspiration Abschlussball

Die Fotografin war drei Jahre zuvor von Upstate New York nach Manhattan gezogen. Sie liebte es, das pulsierende Leben in seinem Facettenreichtum festzuhalten. Doch wie sie sich als Fotografin über Wasser halten sollte, war ihr nicht klar – bis sie in der Wochenzeitung Village Voice eine Annonce sah: Fotograf für die Highschool Proms gesucht.

Ausgestattet mit einer altmodischen Graflex-Kamera wurde Sharon losgeschickt, Abschlussball-Paaren ein Foto zur Erinnerung anzubieten. Sie lief dann damit in den Keller, wo ihr Boss die Fotos entwickelte, sodass das Bild noch am selben Abend dem glücklichen Paar übergeben werden konnte.

Mut wird honoriert

Sharon strudelte sich ab, aber als die Ballsaison vorbei war, wurde sie gekündigt. Doch der Job hatte sie auf eine Idee gebracht. Sie nahm all ihren Mut zusammen, marschierte in den legendären Ritz Club mitten im anarchischen, provokanten East Village und bot ihre Dienste als „Camera Girl“ an. Sie würde Partygästen um drei bis fünf Dollar pro Nacht ihre Schnappschüsse vom Abend verkaufen. In einer Zeit vor Smartphone oder Digitalkamera hatte sie damit eine begehrte Marktlücke besetzt.

Camera Girl

Auch David Bowie hat sie abgelichtet.

©Sharon Smith

Acht Jahre lang tingelte die Fotografin allabendlich durch die wildesten Clubs der Stadt: das Ritz, das Savoy, das Palladium. Sie machte Fotos von den Tänzern und Partygästen, wie sie feierten, tranken und sich verliebten. Sie sah Menschen mit pinkem Haar, grünem Haar oder keinem Haar. Stark geschminkte Drag Queens oder Frauen, die rein gar nichts trugen. Sie traf auf David Bowie, Andie Warhol und Madonna, auf Joe Cocker oder die Pointer Sisters. „Man wusste nie, wer auftauchen würde“, schreibt sie in ihrem Bildband „Camera Girl“, in dem sie ihre Schnappschüsse erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.

Bucherscheinung

Sharon Smith: Camera Girl  (Idea Verlag),  144 Seiten,  55 Euro. 

Mit  Fotografien von Sharon Smith, herausgegeben von Bill Shapiro und einem Vorwort von Honey Dijon. 

Erhältlich bei havensurf.com

Buchcover "Camera Girl"

Der Bildband zeigt ungesehene Fotos aus den 1980ern. 

©Idea Publishing

Doch obwohl die Abende einzigartig waren, war es manchmal eine Überwindung für sie, in die Arbeit zu gehen: „Die Clubs waren so intensiv.“ Laut und voller Zigarettenrauch, aber auch betrunkener Menschen und Partygästen, die Drogen nahmen oder irgendwo Sex hatten. „Jede Nacht mittendrin zu sein, hat das Nervensystem verbrannt.“

Sie brauchte stets Zeit, um in ihre Persona zu schlüpfen. Denn auch Sharon spielte ihre Rolle. Sie war Rose, das Kameramädchen aus einem Budgetfilm der 1940er-Jahre. In schwarzem Kleid und fingerlosen Handschuhen trat sie an Gäste heran und flüsterte: „Wollen Sie ein Foto?“

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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