Wald, der nirgendwo endet: Mit einer Rangerin im Nationalpark Kalkalpen
Nationalpark-Rangerin Erni Kirchweger lebte fast dreizehn Jahre lang mit ihrem Mann in einem Forsthaus im größten Waldschutzgebiets Österreichs. Diese Abgeschiedenheit inspirierte Jahrzehnte zuvor Marlen Haushofer zu ihrem Romanen "Die Wand“.
Am Tag nach dem großen Schnee im Dezember. Ernestine Kirchweger überblickt den Bodinggraben, ihre Winterschuhe knirschen im pulverigen Schnee. Es ist das einzig wahrnehmbare Geräusch, als hätte jemand die Welt leise gedreht. Vom Schneeverkehrschaos, das im Land herrscht, sieht und hört man hier nichts.
Die Szene erinnert an Marlen Haushofers berühmten Roman „Die Wand“. Und das ist kein purer Zufall.
Nationalpark-Rangerin Erni Kirchweger: Fährten im Schnee
Erni beugt sich nieder, zeigt auf eine Tierspur im tiefen Neuschnee. „Wenn du einischaust, dann siehst du es ganz genau, dass das ein Hirsch war. Eine frische Fährte“, erklärt die Nationalpark-Rangerin. Die Spur der Tritte verläuft sich auf der weiten Wiese im blendenden Weiß. Jetzt am Vormittag ist der Zeitpunkt zur Erkundung gut, wenige Stunden später wird sich die Wintersonne schon wieder hinter einen Hügel des Sengsengebirges schieben.
„Der schönste Talkessel im Nationalpark Kalkalpen“
Der Bodinggraben, das ist ein Talkessel – natürlich „der schönste Talkessel im Nationalpark Kalkalpen“ – und war dreizehn Jahre lang Ernis Heimat, bis zur Pensionierung ihres Mannes Michael. Er, Tischler und Holzknecht, nahm einst ein Angebot der Österreichischen Bundesforste an und wurde im Nationalpark Kalkalpen Gebietsbetreuer und Revierjäger. Der Nationalpark ist artenreich, schützt auf einer Fläche von 209 Quadratkilometern das größte zusammenhängende Waldschutzgebiet des Landes. Dreiviertel davon Wildnis.
Am Rand dieser Wildnis wuchs die Autorin Marlen Haushofer auf, in Frauenstein. Das sollte später ihre Bücher prägen.
Nationalpark-Rangerin Erni Kirchweger: Neuschnee
Erni und ihr Mann lebten und arbeiteten hier im Forsthaus Bodinggraben. Rundherum siebentausend Hektar Wald, die es zu beaufsichtigen galt. Erni erzählt davon, während sie an einer Kapelle vorbeimarschiert.
Und dabei Sätze sagt, die man in den Kalkstein ringsum meißeln könnte: „Der Schnee kommt und geht. Manchmal bleibt er.“ Geblieben ist er in jenem Winter, als die Familie in diese Abgeschiedenheit zog. „Wir sind Mitte Dezember 2008 übersiedelt. Nach Weihnachten kam der Schnee – und ist bis Mai nicht wegg’angen.“ Wie die Kirchwegers. Erni, Mutter von sieben Kindern, zog mit ins Forsthaus.
Es thront oberhalb der Wiese, war einst Jagdhaus in fürstlichem Besitz: „Da herinnen haben die Grafen Lamberg ein riesiges Jagdrefugium geschaffen, der Hochadel der Monarchie hat sich hier zur Jagd getroffen.“
In dieser einsamen Natur entwickelte Marlen Haushofer ihr Verständnis von Freiheit, Erni habe hier nie Einsamkeit verspürt. „Ich bin täglich mit einem Wohlgefühl aufgewacht.“ Der nächste Satz hat nur im Dialekt Platz: „I bin do dahoam.“ Ernis und Michis Zeit war geprägt von der Arbeit, Urlaub im Ausland gab es nie. Und doch: „Du hast so viel Zeit zur Verfügung.“ Handyempfang hatten sie in den ersten Jahren keinen, geschweige denn Internet. Der Strom kam vom hauseigenen, kleinen Wasserkraftwerk, damit musste man haushalten. Mit den Kindern wurde viel musiziert. Die jüngste Tochter Lea-Marie, eine Nachzüglerin, brachten sie täglich zum Schulbus.
Zur Einordnung: Die nächste Gemeinde, das oberösterreichische Molln, liegt zwanzig Kilometer entfernt. Die letzten Kilometer in den Nationalpark hinein sind eine Schotterstraße. Als 2019 eine Schneelawine diesen einzigen Zufahrtsweg verschüttet, ist die Familie tagelang von außen abgeschnitten. Die Lawine – eine Wand.
Zwei Frauenleben
Womit man in Ernis Geschichte endgültig bei Haushofer landet. Die Schriftstellerin war Tochter eines Revierförsters, in ihrem Roman „Himmel, der nirgendwo endet“ beschreibt sie autobiografisch ihre Kindheit, die Hauptfigur wächst in einem Lambergschen Forsthaus auf – im nahen Dorf Frauenstein. Und im berühmtesten Werk „Die Wand“ setzt sie ihre Protagonistin in einer Jagdhütte im Gebirge aus; dort wird sie von einer plötzlich auftauchenden, unsichtbaren Wand von der Welt abgeschnitten. Und seit Michi pensioniert ist, leben die Kirchwegers nun in Frauenstein, Hausnummer: Effertsbach 6. Im Geburtshaus von Marlen Haushofer. Zwei Frauenleben, eng verbunden.
Haushofer, zu Lebzeiten als Zahnarztgattin verkannt, schrieb in einem Nachkriegsösterreich, das mit der Vergangenheit wenig zu tun haben wollte und sich die Zukunft nicht ausmalen konnte – was später die Umweltbewegung schaffte: Im Laufe der Jahrzehnte wurden hier ein Speichersee verhindert (ein Erdbeben unter Molln 1967 und der poröse Kalkstein halfen) und Erdöl-Bohrungen wieder eingestellt – und stattdessen 1997 der Nationalpark Kalkalpen eröffnet: Die Natur weniger als bedrohlich ansehen, sondern als schützenswert.
Erni gibt ihr Wissen weiter
Genau hier vermittelt Erni ein halbes Jahrhundert nach Haushofers Tod als Wildnispädagogin Groß und Klein ihr Wissen über Wald und Tiere. „Ich hab mir nie ’dacht, dass ich dafür so brenne.“ Sie erzählt vom Rotwild, von wertvollem Totholz, Urwaldbuchen und vom seltenen Rothalsigen Düsterkäfer, der hier entdeckt wurde. „Sensationell!“ Dann ist der Weg plötzlich blockiert, Schneedruck hat Bäume umgeworfen. Der neue, junge Revierjäger stapft daher, er weiß, was zu tun ist. Die Staffelübergabe hat geklappt, jetzt wohnt er im Forsthaus.
In Effertsbach
Michi renoviert indes das Haus in Effertsbach 6. Manchmal klopfe jemand, der auf Haushofers Spuren wandelt. Erni lacht. „Marlen hat das Haus geliebt, es als das gelbe, große Haus bezeichnet. Unten am Bach hat sie gespielt.“
Erni liebt dieses Gewässer auch. Seit Jahren gehe sie täglich im Bach baden.
Auch an diesem Tag.
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