Genderfluid durch die Jahrhunderte – Tilda Swinton als „Orlando“ nach dem Roman von Virginia Woolf

Wer ist denn nun das schöne Geschlecht?

Männer in Strumpfhosen, Männer mit Nagellack: Modehistorikerin Barbara Vinken sagt, was daran neu ist und warum es manche zur Weißglut bringt

Corona, das war wohl auch eine Pandemie der Jogginghose. 2020 ließ sich die US-Vogue-Chefin Anna Wintour in Frotteebeinkleidern fotografieren und Sportbekleidungshersteller waren die einzigen Textilproduzenten, die Rekordverkäufe bejubelten. Zwei Jahre später scheint die Welt immer noch nicht aus der Jogginghose herausgekommen zu sein. Die Literaturwissenschafterin und Modeexpertin Barbara Vinken spricht im Interview über das Diktat des Schlabberlooks, Mode-moralische Verwerflichkeiten und die Frage, warum die Welt mehr Mut zur Nicht-Identität braucht.

Der Philosoph Hegel hat vor 200 Jahren vor dem Anzug als „Zwangsjacke“ gewarnt. Heute, nach dem Ende des verordneten Homeoffice, scheint sich die Bequemlichkeit durchgesetzt zu haben. Halb Wien trägt Jogginghose, und zwar nicht die schicke, sondern die von der Couch.

Barbara Vinken: Das ist mir auch aufgefallen. Ich stelle auch fest, dass es, trotz eines Beharrens auf Individualität, einen starken Hang zur Konformität gibt, der sich auch in der Jogginghose ausdrückt.

Aber hat das nicht auch mit Bequemlichkeit zu tun?

Das anti-modische Verdikt der Moderne hat sich durchgesetzt. Früher war der Anzug eine Aussage von Neutralität im Sinne von: „Ich achte nicht auf die Kleider, die ich trage.“ Das hat sich geändert, jetzt ist diese Aussage auf die sogenannte Sportswear übergegangen. Der Sprechakt der Moderne ist, dass man auf gar keinen Fall modisch sein darf.

Wenn die Jogginghose aber nicht nur mit Aussagen, sondern auch mit Bequemlichkeit zu tun hat: Müssen Mode und Bequemlichkeit einander ausschließen? Schließlich legte auch Coco Chanel Wert auf Bequemlichkeit, nämlich auf Bewegungsfreiheit, weshalb sie ihre Damenentwürfe dem funktionalen Herrenanzug entlieh.

Absolut. Mode zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip die Öffentlichkeit begehbar macht. Gute Mode ist immer bequem. Heute denke ich da etwa an Comme Des Garçons, Yamamoto oder Balenciaga: Deren Mode ist wahnsinnig bequem. Ein Gegentrend war früher vielleicht Dior. Da musste man schon eine gewisse Haltung haben.

Was jetzt ganz vom Tisch scheint, sind hohe Schuhe. Die sieht man gar nicht mehr. Auch eine Folge der Pandemie?

Die lineare Entwicklung der Mode geht vor allem optisch dahin, dass man in der Stadt wie im Dschungel lebt. Man sieht den Blick der anderen im öffentlichen Raum nur mehr als Hindernis. Es geht darum, praktisch durch die Gegend zu kommen. Das ist auch eine Form von Narzissmus, ein Ganz-auf-sich-abgeschlossen-Sein. Und es hat natürlich auch mit der Handykultur zu tun. Die Leute schauen mehr auf ihr Handy als einander in die Augen. Das ist ein Verlust.

In Ihrem neuen Buch geht’s auch um das Oszillieren zwischen Genderidentitäten. Frauen, die Männerkleidung tragen, gibt es schon lange. Umgekehrt ist das nicht akzeptiert. Dabei wurde die Herrenmode bis zur Aufklärung von Männerbeinen in Po- und Penis-betonenden Strumpfhosen dominiert.

Die Männer waren ursprünglich das schöne Geschlecht. Jenes, das seine Vorzüge sexyer ins Licht rückte. Die Französische Revolution war ein Bruch. Seither konstituieren sich Männer als das natürlichere, a-modisch moderne Geschlecht und haben den Frauen das Stigma der Mode aufgedrückt.

In Italien scheint sich das nicht durchgesetzt zu haben. Dort gibt es mehr Herren- als Damenschneider.

Italien ist da eine Ausnahme. Aber die Leistungsnorm des globalen Nordens ist eine der männlichen Entsagung.

Das Spiel mit Gender ist gerade sehr präsent, aber eigentlich nicht neu, wenn man etwa an Virginia Woolfs Romanfigur Orlando denkt.

Es gab immer schon Formen von Crossdressing. Die letzten hundert Jahre ist der weibliche Modetypus die „Garçonne“, das weibliche Bubi. Modehistorisch gesehen war die Entwicklung vom Männlichen ins Weibliche mit Yves Saint Laurent Mitte der 70er-Jahre formal abgeschlossen. Nun hat sich das umgedreht. Heute werden Motive aus der Frauenmode in die Männermodeübertragen. Rüschen, Sexyness, Schminken, extreme Körperbetontheit. All das, was eigentlich dem Weiblichen zugeschrieben wurde. Ob als Bürde oder Privileg. Der Tabubruch lautete früher „Mann-Weib-Monster“. Darauf antwortet nun der Tabubruch „schwul-weibischer-Sugarboy“. Insofern kann man sagen, die Mode sprengt immer Gender-Korsetts.

Jemand wie der genderfluide Buchpreisträger Kim de l’Horizon regt viele auf. Warum eigentlich?

Weil die moderne Männlichkeit sich eben nicht als künstlich, sondern als natürlich konstituiert. Männer, die jetzt zwischen den Rollen oszillieren, stellen das infrage. Da fühlen sich manche in ihrer „echten Männlichkeit“ verhöhnt.

Würden Sie sagen, dass die Überwindung des eindeutig als männlich oder weiblich Erkennbaren eine soziale Errungenschaft ist?

Unsere Gesellschaften beruhen auf dem Kurzschluss, dass männlich und weiblich biologische Entitäten sind. Das sind sie vielleicht auch, aber wenn wir Mann und Frau sagen, meinen wir viel mehr. Wenn die Mode den Abgrund zwischen Rolle und Biologie aufzeigt, dann werden die Leute nervös. Dass man sich nicht mehr in soziale Rollen einordnen muss, ist durchaus eine Errungenschaft. Natürlich gibt es aber immer auch ein gewisses Begehren „unbeschreiblich weiblich“ oder “ganz männlich“, zu sein, das sollte man anerkennen. Der ganzen Debatte würde insgesamt etwas weniger tierischer Ernst und mehr Ironie guttun.

Barbara Beer

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