Wer ist denn nun das schöne Geschlecht?
Männer in Strumpfhosen, Männer mit Nagellack: Modehistorikerin Barbara Vinken sagt, was daran neu ist und warum es manche zur Weißglut bringt
Corona, das war wohl auch eine Pandemie der Jogginghose. 2020 ließ sich die US-Vogue-Chefin Anna Wintour in Frotteebeinkleidern fotografieren und Sportbekleidungshersteller waren die einzigen Textilproduzenten, die Rekordverkäufe bejubelten. Zwei Jahre später scheint die Welt immer noch nicht aus der Jogginghose herausgekommen zu sein. Die Literaturwissenschafterin und Modeexpertin Barbara Vinken spricht im Interview über das Diktat des Schlabberlooks, Mode-moralische Verwerflichkeiten und die Frage, warum die Welt mehr Mut zur Nicht-Identität braucht.
Barbara Vinken: Das ist mir auch aufgefallen. Ich stelle auch fest, dass es, trotz eines Beharrens auf Individualität, einen starken Hang zur Konformität gibt, der sich auch in der Jogginghose ausdrückt.
Das anti-modische Verdikt der Moderne hat sich durchgesetzt. Früher war der Anzug eine Aussage von Neutralität im Sinne von: „Ich achte nicht auf die Kleider, die ich trage.“ Das hat sich geändert, jetzt ist diese Aussage auf die sogenannte Sportswear übergegangen. Der Sprechakt der Moderne ist, dass man auf gar keinen Fall modisch sein darf.
Absolut. Mode zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip die Öffentlichkeit begehbar macht. Gute Mode ist immer bequem. Heute denke ich da etwa an Comme Des Garçons, Yamamoto oder Balenciaga: Deren Mode ist wahnsinnig bequem. Ein Gegentrend war früher vielleicht Dior. Da musste man schon eine gewisse Haltung haben.
Die lineare Entwicklung der Mode geht vor allem optisch dahin, dass man in der Stadt wie im Dschungel lebt. Man sieht den Blick der anderen im öffentlichen Raum nur mehr als Hindernis. Es geht darum, praktisch durch die Gegend zu kommen. Das ist auch eine Form von Narzissmus, ein Ganz-auf-sich-abgeschlossen-Sein. Und es hat natürlich auch mit der Handykultur zu tun. Die Leute schauen mehr auf ihr Handy als einander in die Augen. Das ist ein Verlust.
Die Männer waren ursprünglich das schöne Geschlecht. Jenes, das seine Vorzüge sexyer ins Licht rückte. Die Französische Revolution war ein Bruch. Seither konstituieren sich Männer als das natürlichere, a-modisch moderne Geschlecht und haben den Frauen das Stigma der Mode aufgedrückt.
Italien ist da eine Ausnahme. Aber die Leistungsnorm des globalen Nordens ist eine der männlichen Entsagung.
Es gab immer schon Formen von Crossdressing. Die letzten hundert Jahre ist der weibliche Modetypus die „Garçonne“, das weibliche Bubi. Modehistorisch gesehen war die Entwicklung vom Männlichen ins Weibliche mit Yves Saint Laurent Mitte der 70er-Jahre formal abgeschlossen. Nun hat sich das umgedreht. Heute werden Motive aus der Frauenmode in die Männermodeübertragen. Rüschen, Sexyness, Schminken, extreme Körperbetontheit. All das, was eigentlich dem Weiblichen zugeschrieben wurde. Ob als Bürde oder Privileg. Der Tabubruch lautete früher „Mann-Weib-Monster“. Darauf antwortet nun der Tabubruch „schwul-weibischer-Sugarboy“. Insofern kann man sagen, die Mode sprengt immer Gender-Korsetts.
Weil die moderne Männlichkeit sich eben nicht als künstlich, sondern als natürlich konstituiert. Männer, die jetzt zwischen den Rollen oszillieren, stellen das infrage. Da fühlen sich manche in ihrer „echten Männlichkeit“ verhöhnt.
Unsere Gesellschaften beruhen auf dem Kurzschluss, dass männlich und weiblich biologische Entitäten sind. Das sind sie vielleicht auch, aber wenn wir Mann und Frau sagen, meinen wir viel mehr. Wenn die Mode den Abgrund zwischen Rolle und Biologie aufzeigt, dann werden die Leute nervös. Dass man sich nicht mehr in soziale Rollen einordnen muss, ist durchaus eine Errungenschaft. Natürlich gibt es aber immer auch ein gewisses Begehren „unbeschreiblich weiblich“ oder “ganz männlich“, zu sein, das sollte man anerkennen. Der ganzen Debatte würde insgesamt etwas weniger tierischer Ernst und mehr Ironie guttun.