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Über 40 und ungeküsst: "Eine Partnerschaft macht einen nicht vollständig"

Die deutsche Autorin und Influencerin Jana Crämer ist über 40 und hatte noch nie eine Beziehung oder Romanze. Wie sie gelernt hat, sich selbst zu genügen.

Von Eileen Wagner

Wann beginnt ein „normales“ Liebesleben? Mit 14 Jahren, so sagt es eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München. In diesem Alter haben die meisten Menschen in Deutschland ihre erste Beziehung. Ab dann scheint ein stiller Fahrplan zu gelten: erste Liebe, erste Trennung, irgendwann „die eine“ Beziehung, Ehe und Kinder. Was aber, wenn der Plan nie greift? Jana Crämer ist 43 Jahre alt. Und: ungeküsst.

Kein erster Kuss, keine Intimitäten. Wer jedoch glaubt, hier beginne eine Geschichte voller Verzicht oder Scheitern, täuscht sich. Crämer ist vieles – nur nicht zu bedauern. Sie ist Autorin, Speakerin und Podcasterin, eine Frau mit Humor und der Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen.

Leise wird sie nur, wenn es um ihren Körper geht. Denn dieser ist von Lipödem, einer Essstörung und dem Leben gezeichnet. „Ich habe mich lange geschämt und gelogen, damit niemand merkt, dass ich keine Beziehung hatte“, sagt Crämer. Nicht, weil sie keine Beziehung wollte, sondern weil sie dachte, sie sei nicht liebenswert genug: zu viel, zu falsch, eine „widerliche Masse Mensch“ – ein Ausdruck, den sie einst für sich selbst verwendete.

Mitleidige Fragen

Mittlerweile hat Crämer ein anderes Lebensmodell gewählt. Liebe lehnt sie nicht grundsätzlich ab, aber sie wartet nicht mehr darauf. „Ich bin in Beziehungen – nur eben nicht in romantischen“, erklärt sie. „Dazu zählen Freundschaften, Familie, Begegnungen auf der Bühne. Ich vermisse nichts.“ Es ist für sie ein bewusst gewählter Lebensentwurf.

Fragen kommen trotzdem ständig – mal beiläufig, mal neugierig, manchmal mitleidig: „Wieso bist du allein? Warum hattest du noch nie eine Beziehung? Willst du nicht endlich auch mal …?“

Die Botschaft: Alleinsein ist nicht normal, sondern erklärungsbedürftig. Sie erzählt von Feiertagen, an denen ihre Großmutter den fehlenden „Versorger“ bedauerte. Von Gesprächen, in denen ihre Beziehungsfreiheit als psychische Störung gedeutet wurde. „Die Vorstellung, dass jemand ohne Beziehung glücklich sein kann, existiert für viele einfach nicht“, sagt Crämer. Früher fühlte sich das für sie wie ein Angriff an. Heute ist das anders: „Jeder dieser Kommentare sagt mehr über die Person aus, die sie äußert, als über mich.“

Ein Schlüsselmoment war für Crämer die Erkenntnis, dass viele, die sie wegen ihrer Beziehungslosigkeit bemitleiden, selbst in Partnerschaften leben, die sie unglücklich machen. Und genau da liegt für Crämer ein Denkfehler, der weit über ihre eigene Geschichte hinausreicht: „Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht, dass ich keine Beziehung habe, sondern dass ich mir keine schöne vorgaukeln muss.“ Für sie ist heute klar: Eine Partnerschaft macht einen nicht vollständig. Erfüllung beginne im Blick auf sich selbst.

Hungern, um zu genügen

Crämer musste lernen, sich nicht nur gegen die Vorurteile anderer, sondern auch gegen ihre eigene innere Stimme zu behaupten, die oft der lauteste Mobber war. Schon als Schülerin wurde sie gehänselt, beschimpft und systematisch ausgegrenzt. „Mir wurde gesagt, ich sei fett, hässlich, eine verlorene Wette. Irgendwann habe ich es selbst geglaubt.“ Auch ihr Verhältnis zum Essen war über Jahre hinweg zerstört. „Ich habe gegessen, um Gefühle zu betäuben. Und ich habe gehungert, um endlich zu genügen.“

Ihr Körper wurde zur Projektionsfläche, zum Kontrollinstrument, zum Feind. Erst als sie begann, Verantwortung zu übernehmen, veränderte sich etwas. „Ich habe meinen Körper mit einer Essstörung zugrunde gerichtet. Jetzt ist es an mir, das wiedergutzumachen. Er hat mich durch alles getragen. Ich liebe ihn dafür.“

Das Schreiben wurde ihr Rettungsanker. „Wenn ich schreibe, bin ich ehrlich zu mir selbst. Ehrlicher als in Gesprächen.“ In ihrem autobiografischen Buch „Jana, 39, ungeküsst“ (Droemer Knaur) lässt sie ihr heutiges Ich mit der jüngeren Version ihrer selbst sprechen und verarbeitet so das Erlebte – ein Prozess, der nicht immer einfach war. „Inzwischen liebe ich es, meine Geschichte zu erzählen, weil ich das Gefühl habe, dass es jemandem guttut, das zu hören“, sagt sie.

Crämer lebt mit Lipödem, einer chronischen Fettverteilungsstörung, die meist unerkannt bleibt. Kurz nach der Lipödem-Diagnose folgte die nächste: Multiple Sklerose (MS), eine chronische, unheilbare Erkrankung des Nervensystems. Beide Krankheiten haben ihre Beziehung zum eigenen Körper verändert. Schönheit ist für sie kein Maßstab mehr. Entscheidend sind Funktionalität, Kraft und Beständigkeit.

Allein, aber nicht einsam

Durch all ihre Erfahrungen wirkt Crämer heute gelassen. Die Frau, die früher meinte, in einer Beziehung ihre Erfüllung zu finden, sucht heute nur noch Glück in sich selbst. „Ich bin nicht mehr einsam. Ich bin nur allein. Und ich liebe die Zeit mit mir“, sagt sie.

Früher bedeutete Alleinsein für sie Leere, heute bedeutet es vor allem Freiheit. Statt einer Partnerschaft fürs Leben hat Crämer etwas gefunden, das viele nie erreichen: einen kompromisslosen Frieden mit sich selbst. Und das, sagt sie, „ist kein Trostpreis, sondern vielleicht das eigentliche Ziel.“

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