Sexologin Nicole Siller: „Die lustvolle Frau macht noch immer Angst“

Orgasm Gap: Warum Männer öfter zum Höhepunkt kommen als Frauen, warum Geschlechtsverkehr nicht gleich Sex ist und was der Schulunterricht damit zu tun hat.

Die mediale Aufmerksamkeit war ihr gewiss. Cara Delevingne stellte sich in den Dienst der Wissenschaft – und masturbierte für die BBC-Dokumentation „Planet Sex“ (ab 22. 12. auf RTL+) vor laufender Kamera. Das Model will helfen, die Auswirkungen des Orgasmus auf den Körper zu untersuchen – und herauszufinden, warum Männer beim Sex eher einen Orgasmus haben als Frauen. Sexologin Nicole Siller beantwortet die wichtigsten Fragen.

Studien zeigen, dass Männer beim Sex viel öfter zum Orgasmus kommen als Frauen. Wie groß ist der „Orgasm Gap“ wirklich?

Nicole Siller: Das ist schwer zu sagen, weil es viele Umfragen gibt, bei denen die Menschen nicht ehrlich sind. Es wird nach wie vor über alle Medien transportiert, dass Sex gut ist, wenn es zur Penetration kommt. Dadurch ergibt sich die Erwartung, dass durch Penetration ein Orgasmus stattfindet. Das ist zwar für fast 100 Prozent der Männer die optimale Bedingung, für Frauen aber nicht.

Viele glauben: Geschlechtsverkehr ist gleich Sex?

Genau. Wir haben noch immer dieses heteronormative Bild im Kopf. Wenn ich frage, was guter Sex ist, sagt fast jeder Mann „Geschlechtsverkehr und wenn ich einen Orgasmus habe“. Frau sagt, „wenn ich ausreichend berührt werde und wenn es Zärtlichkeit gibt“. Zum Glück ändert sich auch bei Männern gerade viel, vor allem an der Einstellung zu Sexualität.

Sexologin Nicole Siller

©Ludwig Schedl
Mit welchen Anliegen wenden sich Männer an Sie?

Ganz viele kommen, weil sie merken dass sie nicht immer können und wollen – weil ihr Körper auch einmal Nein sagt. Also die unglaublichen Erwartungen an die eigene Sexualität sind bei den Männern momentan ein großes Thema. Auch, dass Mann sich nicht erlaubt, seine sexuellen Bedürfnisse oder Verletzlichkeit zu zeigen.

Warum ist das so?

Durch die Diskussionen um #MeToo wurde viel angestoßen. Mann weiß oft nicht, wie man einander verführen und begegnen darf. Männer sind schon seit vielen Jahren in einer Verunsicherungsspirale – das spiegelt sich auch in der Sexualität wieder, weil sie nicht mehr automatisch die Mächtigen, also die mit dem Geld, sind.

Wie steht es um das Tabuthema weibliche Sexualität?

Lust war immer ein Angstwerkzeug. Eine lustvolle Frau macht Angst – das ist noch immer in vielen Köpfen. Eine unbeherrschte, wilde Frau ist scheinbar negativ. Dabei wünschen sich alle Hingabe.

Womit kommen Frauen zu Ihnen in die Praxis?

Große Themen sind, dass sich Frauen nicht fallen lassen können, weil sie unter Druck stehen, mehrfach belastet sind und sich das nicht erlauben. Viele gestehen sich nicht ein, dass die Sexualität, die sie bisher gekannt haben, nicht befriedigend ist. Dann das Gefühl, nicht genug zu sein: Viele versuchen, sich selbst zu optimieren. Weil sie dann, wenn sie die drei Kilo abgenommen haben, perfekt wären. Aber so kommt man nie an den Punkt, wo man sagt „ich genieße mich so, wie ich bin“.

Zurück zum Orgasmus: Weiß Mann nicht, was er tut, oder kommuniziert Frau nicht?

Viele Frauen sagen, dass Männer wissen, dass sie klitorale Stimulation brauchen, aber oft nur kurz herumgefummelt wird. Männer spüren oft nicht oder Frauen trauen sich nicht zu zeigen, was sie brauchen. Oder dass sie einfach zehn Minuten länger, variierende Geschwindigkeit, Zärtlichkeit oder Bestimmtheit brauchen.

Und wenn Frauen Männer damit konfrontieren?

Ich kenne beides: Männer, die sagen, ich möchte, dass meine Partnerin mir zeigt, was sie will. Aber ich erlebe auch Männer, die sagen, in dem Moment, wo mir meine Partnerin sagt, was sie will, ist es aus bei mir. Nimm mich, wie ich bin, oder ich gehe.

Gaps, Gaps, Gaps

Orgasm Gap: Bezeichnet das deutliche Gefälle zwischen Mann und Frau beim Erreichen eines sexuellen Höhepunktes. Laut einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2017 erreichen 95 Prozent der Männer beim Sex immer einen Orgasmus. Bei den Frauen sind es nur 65 Prozent.

Moaning Gap: Sowohl beim Masturbieren als auch beim Sex mit einem Partner oder einer Partnerin stöhnen Männer deutlich weniger als Frauen, ergab eine Studie. Ein Grund: Angst, gehört zu werden, und Unsicherheit

Wie können wir dann den Orgasm Gap schließen?

Sexuelle Bildung ist ein wichtiges Instrument, das uns wohl allen noch fehlt. Was in der Schule vermittelt wird, ist wertvoll, aber es geht nie darum, wie ich in einen lustvollen Zustand komme, sondern eher darum, wie ich negative Aspekte verhindere. Es braucht aber auch Menschen, die den Mut haben, sich zu zeigen und neues auszuprobieren. Man muss dem Partner ja nicht sagen: „Die letzten 15 Jahre habe ich dir was vorgespielt.“ Wenn wir alle neugieriger aufeinander sind und es Spaß machen darf, sind wir auf einem guten Weg.

Was bei Problemen im Bett helfen kann

Eine Sorge nimmt Sexologin Siller vorweg: „Ich bin überzeugt, dass jede Frau zum Orgasmus kommen kann.“ So gut wie jede bestätige ihr aber, „dass sie nicht  ausschließlich durch Geschlechtsverkehr oder ein kurzes Klitoris-Rubbeln  kommt. Es braucht so gut wie immer in irgendeiner Form die klitorale Stimulation.“ 
Woran es liegt, wenn der Orgasmus bislang ganz ausblieb? „Wenn medizinisch alles abgeklärt ist, ist es meist eine Sache des Sich-fallen-Lassens. Das höre ich von fast allen Frauen mit Orgasmus-Problemen.“ Gerade bei psychischen Faktoren könne man aber viel tun, beruhigt sie. Bei physischen Problemen –  etwa einem hyperangespannten Beckenboden – schafft Physiotherapie Abhilfe. Vibratoren empfiehlt Siller, „damit frau auch einmal einen Orgasmus erleben kann, wenn sie gerade Lust darauf hat“. 
Ständig darauf zurückzugreifen, sieht sie problematisch – auch immer dieselbe Selbstbefriedigung beim Mann: „Dann merkt sich der Körper genau diesen einen Weg, aber es gibt ganz viele zum Orgasmus.“  Wichtig sei ein gewisses „sexuelles Repertoire“ – und Spaß. Man kann was ausprobieren und dann sagen ‚Nein, doch nicht‘. Aber wie sollen wir wissen, wie es geht, wenn wir es nicht versuchen?“ 

Elisabeth Kröpfl

Über Elisabeth Kröpfl

Seit Dezember 2021 beim KURIER. Zuerst im Ressort Lebensart, jetzt am Newsdesk. Spanisch- und Englischstudium in Graz, danach Journalismus-Master an der FHWien.

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