Wintersonnenwende: Wie Rituale auf die Psyche wirken

In der längsten Nacht des Jahres und rund um Weihnachten wird orakelt, geräuchert, gewünscht. und wie sie Warum Rituale ein Comeback erleben.

Das Feuer lodert, rundherum sitzen ein paar Menschen und kritzeln Wünsche auf Zettel. Innehalten, dann wirft jeder sein Papier in die Flammen. Ein beliebtes Ritual in der längsten Nacht des Jahres.

Wintersonnenwende, Raunacht, Weihnacht, Neujahr: Die dunkle Zeit des Jahres gilt als Hoch-Zeit der Rituale, sagt Barbara Blattner, Coach und Ritualbegleiterin. „Speziell seit der Pandemie erleben sie ein Comeback. Menschen finden darin Trost und Halt, aber auch Entspannung“, sagt sie. Rituale können in Phasen der Unsicherheit helfen, sie entsprechen dem menschlichen Bedürfnis nach Transzendenz. Selbst betriebliche Weihnachtsfeiern werden als wichtiges Ritual wahrgenommen, sagt der deutsche Arbeitspsychologe Hannes Zacher von der Uni Leipzig.

Warum Rituale gemeinschaftsfördernd sind

 Er hat das Phänomen erforscht und die Ergebnisse im Journal Scientific Reports veröffentlicht. „Die Weihnachtsfeier als Ritual ist der Spiegel der Organisationskultur und soll etwas Wertschätzendes für das vergangene Jahr sein“, sagt er. Sie erhalten den sozialen Kitt. Die gemeinschaftsfördernde Dimension scheint wesentlich: „Der Mensch lebt in dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur Welt und Integration in eine Gemeinschaft. Rituale kommen diesen Bedürfnissen nach“, weiß Blattner.

Kürzester Tag, längste Nacht des Jahres

Es werde Licht. Die Wintersonnwende findet auf der Nordhalbkugel am  Freitag, 22. Dezember 2023, 04:27 MEZ statt. Dabei hat die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne jenen Punkt erreicht, ab dem sich die Nordhalbkugel wieder stärker zur Sonne hinwendet. Die Wiederkehr des Lichts wurde schon in der  Antike  gefeiert, in Europa besonders bekannt ist das Julfest der Skandinavier.  Dort wünscht man sich zu Weihnachten immer noch „God Jul!“.  
 

Thomasnacht

Das Datum markiert den kürzesten Tag und  die längste Nacht des Jahres – in Österreich Thomasnacht genannt. Beliebt  sind Orakelrituale wie etwa das „Bettstaffltreten“. Dabei wird der Heilige Thomas gebeten, bezüglich einer möglichen Hochzeit in die Zukunft zu schauen. Die Nacht zählt zu den vier Haupt-Raunächten, die noch vor hundert Jahren als spiritueller Höhepunkt des Jahres galten. Nach wie vor  laden diese dunklen und kalten Nächte dazu ein, zurückzuschauen, es ist eine Zeit der Einkehr.  Ein Ritual, das in den vergangenen Jahren  besonders in Mode gekommen ist, ist das Räuchern. Vor allem auf dem Land werden die Ställe und Stuben mit Hilfe von Räucherzeremonien „gereinigt“.

Sehnsucht nach Ankerpunkten kommt auf

Die Wochen rund um Weihnachten gelten als Übergangszeit. „Sie kann dazu dienen, Vergangenes zu würdigen, abzuschließen und zuversichtlich in einen neuen Jahreskreis, beziehungsweise in eine neue Lebensphase zu gehen“, sagt Blattner. Auch um Silvester und Neujahr können Rituale, wie etwa das Formulieren von Vorsätzen, den Wunsch nach Veränderung unterstützen. In therapeutischen Prozessen werden Rituale genutzt, um Sinn zu stiften, zu ermutigen, zu verbinden oder zu versöhnen.

Große Feste dienen als Ankerpunkte, die Struktur geben, speziell wenn die Welt als unsicher wahrgenommen wird. „Rituale sind immer auch auf psychologische Bedürfnisse zurückzuführen, die bei Erfüllung letztlich zur Erfüllung grundlegender Urbedürfnisse beitragen“, heißt es dazu im wissenschaftlichen Sammelwerk „Psychologie der Rituale und Bräuche“ des deutschen Sozialpsychologen Dieter Frey (Springer-Verlag). 

Da geht es um die Sehnsüchte von Menschen nach Orientierung, Geborgenheit, Einordnung und soziale Identität. Sie würden außerdem ermöglichen, die Zyklen der Natur bewusster zu erfahren. Das kommt speziell rund um die Wintersonnwende und in den Raunächten zum Ausdruck – sie werden als mystisches Naturereignis wahrgenommen.

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Stabilität wird durch Rituale verstärkt

Wenn Rituale ähnlich und wiederkehrend gefeiert werden, wirkt das stabilisierend – insbesondere für Kinder. „In Gemeinschaften, Familien und Partnerschaften können Rituale, Struktur, Verlässlichkeit, Beständigkeit, Kontinuität und Zusammenhalt geben. Dies wird dadurch verstärkt, dass sie oftmals mit etwas Positivem verbunden sind, das Menschen zusammenbringt, beispielsweise beim gemeinsamen Feiern eines Festes wie Weihnachten“, so Dieter Frey und Katja Mayr in „Psychologie der Rituale und Bräuche“.

Kindheitserinnerungen tauchen auf

Dazu kommen sinnliche Erfahrungen, die Barbara Blattner sehr schätzt: „Diese Zeit ist von Düften aller Art geprägt, die Gewürze bei Teezeremonien, die Zutaten der Weihnachtsbäckerei, die Dämpfe der Räucherwaren. Sie können Erinnerungen an unsere Kindheit wachrufen und Gefühle des Geborgenseins auslösen.“

Rituale bergen aber auch Gefahren, schreibt Ritualforscher Frey: „Zum Beispiel verlieren sie bei unterschiedlicher emotionaler Beteiligung bei der Ausführung ihre tiefere Bedeutung und werden dann zu leeren Ritualen.“ Im schlimmsten Fall dienen sie der Manipulation.

Die eigenen Motive hinterfragen

Umso wichtiger ist es, sie bewusst einzusetzen, im Sinne einer „humanistischen Grundidee, die von Respekt und Wertschätzung sowie die Vorstellung einer Gesellschaft, die auf Toleranz, Menschlichkeit, Offenheit und Akzeptanz von Vielfalt beruht“, wie es bei Ritualforscher Frey heißt. Deshalb sei es bedeutend, die eigenen Motive dafür gut zu kennen, betont Barbara Blattner: „Mache ich das, weil es angesagt ist oder weil ich es möchte? Rituale sind nur dann sinnvoll, wenn sie uns guttun, einen gewissen Sinn stiften oder heilsam sind.“

Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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