
Psychoanalytiker Claus Braun: „Wir sollten Albträume schätzen“
Von wegen Hirngespinst – Traumforscher, Neurologe und Psychiater Claus Braun beschreibt in seinem neuen Buch, wie wir mit Träumen zu uns selbst finden können.
Menschen träumen jede Nacht in etwa drei bis vier Stunden. Am Morgen erinnern sich viele, wenn überhaupt, an einen einzigen Traum. Daran können und sollten wir arbeiten, argumentiert der deutsche Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie, Claus Braun, in seinem neuen Buch „Mit Träumen zu sich finden“ (Brandes & Apsel).
KURIER: In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass Träume unser Schutzsystem sind. Wie meinen Sie das?
Claus Braun:
Trauminhalte sind ja überwiegend nicht glücklicher Natur. Oft sind wir mit einer Konfliktsituation konfrontiert. Wir rasen mit dem Auto in eine gefährliche Kurve oder wir sitzen in einem Fahrstuhl, der endlos weiterfährt. Im Traum werden Angstmomente durchgespielt.

Psychoanalytiker Claus Braun
©Claus BraunUnd das ist hilfreich?
Ja. Wer vor einer Prüfung Albträume hat, geht gelassener hinein – weil die Angst im Traum schon ein Stück abgearbeitet wurde. Wir sollten Albträume also nicht verachten, sondern eher schätzen. Oft weisen sie auf Themen hin, mit denen wir uns auseinandersetzen können.
Sie beschreiben im Buch den Fall eines Mannes, der wiederholt von seinem Vater träumte, ihn dann besuchte. Kurz darauf starb der Vater…
Der Mann war sehr dankbar, dass er doch noch zu seinem Vater gefahren ist. Der Vater war früher sehr hart, hatte sich aber verändert. Man sollte also ernst nehmen, was man träumt – auch wenn es noch so verrückt erscheint.
Sie sind Facharzt der Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatischen Medizin. Wie sind Sie zu Träumen gekommen?
Ich habe in meiner Schulzeit mit Begeisterung Sigmund Freuds „Traumdeutung“ gelesen und dann meine eigenen Träume aufgeschrieben. Später habe ich das aber wieder verworfen.

Traummotive im Londoner Freud Museum
©Bauer Anna-MariaWeshalb?
Die Psychoanalyse erschien mir altmodisch. Ich habe Psychologie, dann Medizin studiert, war Verhaltenstherapeut. Aber als Patienten wiederholt sagten, so ein pragmatischer Weg reicht uns nicht, habe ich mich entschlossen, Psychoanalyse zu studieren.
Das Thema hat Sie nie losgelassen ...
Genau. Ich glaube, dass wir viele unserer wichtigsten Gedanken zwischen 16 und 20 haben – wenn wir in der Aufbruchphase sind.
Sie schreiben auch über die kreative Kraft der Träume. Dass Wissenschafter wie Albert Einstein oder Nikolas Tesla von ihren Erfindungen geträumt haben. Dass Paul McCartney die Melodie von „Yesterday“ im Traum erschien…
Der Traum ist eine Quelle von Kreativität. Künstler haben oft einen besonderen Zugang zum Traumleben. Meine Frau ist zum Beispiel Komponistin und träumt immer wieder von Melodien, die sie nach dem Aufwachsen aufschreibt.

Albert Einstein soll von der Lichtgeschwindigkeit geträumt haben.
©EPA/HANNIBAL HANSCHKEWie kann man lernen, sich besser an eigene Träume zu erinnern?
Das Wichtigste ist, sich am Abend davor vorzunehmen: Wenn ich heute etwas träume, werde ich mir das merken.
Warum funktioniert das?
Es geht um einen introspektiven Prozess. Menschen, die introvertiert sind, haben es deshalb leichter; sie haben diese Aufmerksamkeit nach innen gewohnheitsmäßig eher eingeschaltet. Wichtig ist auch, gelassen zu sein. Manchmal dauert es, bis ein inneres Thema so viel Energie hat, dass es meine Erinnerung erreicht.
Sie empfehlen, ein Traumtagebuch zu führen. Worauf konzentriere ich mich beim Aufschreiben?
Es hilft, wenn man dem Traum ein Thema gibt. Ein Prüfling träumte etwa, er fliege mit dem Auto aus der Kurve, konnte sich aber gerade noch an einem Baum festhalten. Der Satz „Ich fliege aus der Kurve“ half ihm dabei, den Traum in Erinnerung zu bewahren.

Claus Brauns Buch "Mit Träumen zu sich finden" ist soeben im Brandes&Apsel Verlag erschienen.
©VerlagSie haben vorhin den Fahrstuhl erwähnt. Ist das ein häufiges Motiv?
Ja – vor allem für jüngere Leute, die in ihrem Leben in einer aufsteigenden Bewegung sind. Die Schule, das Studium, man weiß nicht so recht, wo es hingeht; die Zukunft ist offen.
Reflektieren Träume auch das Weltgeschehen?
Der Krieg in der Ukraine macht derzeit Bilder in den Träumen. In einer Traumszene steht eine Person auf einem Balkon und sieht hinter dem Wald bedrohende Flammen aufsteigen. In einer anderen donnern Kriegsflugzeuge über das Haus hinweg. Aber solche Themen kommen oft mit Verzögerung – als ob die Angst eine Zeit braucht, um sich innerlich anzusammeln.
Eine weitere Schutzfunktion?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht auch verdrängen könnten, wären wir sehr belastet. Deshalb vergessen wir Träume nach dem Aufwachen so schnell wieder.

Dass wir Träume nach dem Aufwachsen vergessen, ist eine Schutzfunktion.
©Getty Images/miniseries/istockphotoAuf Social Media kursieren viele Tipps zum luziden Träumen – also Träumen, bei denen man sich bewusst ist, dass man träumt. Warum fasziniert das so?
Weil man das Gefühl hat, den Traum steuern zu können. Viele Menschen reizt die Vorstellung, im Traum fliegen zu können.
Wenn wir Träume als Filme abspielen könnten – wäre das Fluch oder Segen?
Das kann man nicht eindeutig sagen. Ein Patient von mir träumt davon, einen Traumrekorder zu konstruieren. Es gibt auch Versuche, über EEG-Ableitungen Denk- oder auch Trauminhalte sichtbar zu machen. Diese Forschung ist aber noch grob. Aber Sie kennen vielleicht den Film „Inception“. Dort wird gezeigt, wie man in das Traumleben eindringen und Menschen so von innen beeinflussen kann. Das ist eine ziemlich beängstigende Vorstellung.
Sie arbeiten in der Psychoanalyse mit den Konzepten von Carl Gustav Jung. Finden sich in Träumen viele Archetypen, viele Urbilder wieder?
Weniger, als man vielleicht denkt. Der Traumforscher Christian Rösler hat aber herausgefunden: Wenn Kinder in Träumen erscheinen, dann spielt ein archetypisches Entwicklungsthema eine Rolle.
Haben Sie ein Beispiel?
Eine Frau träumte, dass in ihrer Wohnung eine Tür aufgeht, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Dahinter stand ein kleiner Junge, er sie anlächelte. Die Frau hat diese Szene sehr gerührt. Sie konnte keine Kinder bekommen und hat durch den Traum erkannt: Es gibt nicht nur die eigenen Kinder; es geht vielleicht um ihr inneres Kind
Wäre es also wichtig, Symbole, die im Traum auftauchen, deuten zu lernen?
Nein, Traumsymbole sind individuell und nicht zu verallgemeinern. In vielen Traumbüchern steht etwa, wenn ein Bär im Traum auftaucht, hat das mit der Mutter zu tun. Aber das lässt sich überhaupt nicht nachweisen.
Wenn Sie eine einzige Wahrheit über Träume teilen könnten – welche wäre das?
Dass unsere Träume absolut ehrlich sind. Da ist nichts erstellt, nichts beschönigt. Das ist unsere innere Wahrheit. Und deshalb können wir unseren Träumen auch trauen.
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