„Offene Beziehungen sind ein großer Trend“
Die meisten Menschen nennen Treue als Voraussetzung für eine glückliche Ehe – dennoch scheitert jede zweite. Alternative Modelle könnten die Lösung sein, sagt die Therapeutin Aino Simon.
Im neuen Netflix-Film „Du Sie Er & Wir“ vollführen zwei Paare einen Partnertausch, um ihre langjährigen Beziehungen aufzupeppen. Eine kluge Idee? Oder der Anfang vom Ende? Aino Simon ist eine der führenden Expertinnen für alternative Beziehungsmodelle: Seit zwanzig Jahren berät sie als Beziehungscoach in Berlin unglückliche Paare, fast genauso lange lebt sie in einer offenen Ehe mit ihrem Mann, dem Vater ihrer Kinder. Heißt: Beide „dürfen“ auch mit anderen schlafen und gehen offen damit um. Wie das Konzept funktioniert und warum es in ihren Augen sogar das bessere Modell ist, erzählt die 42-Jährige im Interview.
Aino Simon: Die Nachfrage nach alternativen Modellen ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Offene Beziehungen sind ein großer Trend, der gerade bis weit in die Mitte der Gesellschaft schwappt.
Meiner Erfahrung nach hat das damit zu tun, dass sehr viele monogame Paare Betrugserfahrungen machen und Beziehungen immer kürzer werden. Wir sprechen ja von der seriellen Monogamie: Menschen wechseln schneller den Partner, weil sie nicht so lange treu bleiben. Menschen in offenen Beziehungen gehen einen Schritt weiter und sagen: Kann das nicht auch parallel passieren, wenn es für uns beide stimmig ist?
Ich habe meinen Mann mit 23 kennengelernt. In meinen früheren Beziehungen war ich immer untreu, die sexuelle Anziehungskraft meiner Partner hat sich für mich schnell aufgelöst. Ich habe das Fremdgehen genossen und mich gleichzeitig schlecht gefühlt, dass ich meinen Partner anlügen muss. Meinem Mann ging es ähnlich. Als wir zusammenkamen, haben wir gesagt: Wir können unmöglich so tun, als wären wir für immer treu. Also haben wir die Flucht nach vorne angetreten. Die ersten zwei Jahre hatten wir gar keine Fremdkontakte, dann hat es sich langsam entwickelt.
Es braucht eine gute, stabile Beziehung, eine zerrüttete Partnerschaft wird man damit eher nicht retten können. Es braucht viel Ehrlichkeit, in erster Linie zu sich selbst. In offenen Beziehungen geht es nicht darum, immer zu machen, was man will. Man muss Grenzen immer wieder neu verhandeln und akzeptieren. Dazu kommt eine Leidensbereitschaft, denn das Ganze tut auch mal weh.
Eifersucht kommt in allen Beziehungen vor, aber in offenen Modellen muss man einen produktiven Umgang damit finden. Es ist okay, eifersüchtig zu sein, fast jeder Mensch fühlt so. Dann kann man schauen: Auf welche unentdeckten Bedürfnisse weist mich meine Eifersucht hin? Welche schmerzhaften Erfahrungen aus meiner Vergangenheit melden sich hier? Wenn man eifersüchtig ist, braucht man vom Partner ganz viel Liebe. Wir nennen das den roten Teppich.
Die Art, wie ich lebe, führt – wenn sie gepaart ist mit Wohlwollen und Entwicklungsbereitschaft – zu einer tieferen Bindung. Ich empfinde mich als privilegiert, weil ich meine Sexualität frei leben kann. Aber natürlich würde ich nicht behaupten, dass offene oder sogar polyamore Beziehungen für jeden das Nonplusultra sind.
Das monogame Modell ist sehr attraktiv, weil es für das Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit eine gute Antwort liefert. Das Problem ist nur, dass sie sich in sehr vielen Fällen als Scheinsicherheit herausstellt. Der Betrug überrascht und verletzt, weil wir so tun, als gäbe es diese Gefahr nicht. Ich glaube, dass Beziehungsmodelle, die alle Grundbedürfnisse integrieren, eine bessere Zukunftsfähigkeit haben. Ich will die Monogamie aber nicht abschaffen – ich bin eher empört darüber, dass wir immer noch ein Modell romantisieren, bei dem wir irgendwann ziemlich sicher auf die Schnauze fallen werden.
Ich sage, sie ist eine verklärte, ideologische Vorstellung. Dieses Konstrukt stärkt unseren Selbstwert: In einer monogamen Beziehung stehe ich immer auf dem Siegertreppchen, weil mein Partner mich auserwählt hat. Aber wir können unseren Selbstwert nicht davon abhängig machen, dass uns irgendjemand als Beste oder Besten auswählt. Daher finde ich es wichtig, dass wir über diese Verklärung sprechen.
Redet darüber, dass die Monogamie im Widerspruch zu unserer Biologie steht. Dann erschreckt ihr nicht so sehr, wenn plötzlich einer von euch Lust auf etwas Fremdes hat. Das Problem ist, dass Sex und Liebe verknüpft werden und junge Menschen denken, wenn mein Freund scharf ist auf eine andere, kann er mich nicht mehr lieben. Das ist aber nicht nötig, denn man kann lieben und trotzdem Lust auf etwas anderes haben. Es ist nicht die Liebe, die weggeht, es ist einfach das Sexualsystem, das sich meldet.
Aber was ist denn Verliebtheit? Ein Hochgefühl der Lebendigkeit. Wie gemein, dass man das nur einmal im Leben erleben soll. Wir sollten uns dieses Gefühl erlauben, ohne gleich auf die Beziehungsrolltreppe steigen zu müssen. Warum kann ich nicht mal drei Wochen oder drei Monate verliebt sein, mich jung und schön und sexy fühlen und gleichzeitig mein normales Leben mit Kindern, Mann, Haus und Schwiegereltern weiterführen? Die Wahrscheinlichkeit, dass man heißes Begehren auf den Partner hat, wird mit den Jahren immer geringer. Warum also nicht Sexualität mit anderen Menschen leben? Es ist einfach nur Sex, mein Gott.
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Fakten
Aino Simon
ist Gestalttherapeutin und Sozialwissenschafterin. Ihr Online-Kurs „Couple Care“ zählt zu den erfolgreichsten in Deutschland
Alternativ
In einer offenen Beziehung einigen sich die Partner darauf, dass Fremdgehen für beide „erlaubt“ ist. Polyamore lieben mehrere Personen gleichzeitig
78 % der Frauen
und 69 % der Männer gaben in einer Studie an, dass Treue für sie extrem wichtig ist. Knapp jeder Dritte ging schon einmal fremd
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