Milch mit Mehrwert: Hier dürfen die Kälber bei den Müttern bleiben
Zur herkömmlichen Milchproduktion gehört auch das frühe Trennen von Mutterkuh und Kalb – wenige Landwirte in Österreich zeigen, wie die Aufzucht mit mehr Tierwohl funktioniert.
Lisa, Locke und Cinderella traben gemütlich über die Kellergasse in Obersdorf auf ihre Weide – Lengerl, das Weihnachts-Kalb, sucht erst nach zehn Minuten seine Mutter. Sie standen sowieso bis eben noch im Stall beisammen, warum also die Freiheit nicht kurz auskosten. Vor zehn Jahren krempelten Viktoria und Gottfried Rögner ihren kleinen Bauernhof mit Käserei im Weinviertel um: Er – der kreative Denker, sie – die Globalismus-Kritikerin aus der Stadt –, aber beide Idealisten. "Bei uns dürfen die Kälber bei der Mutter bleiben und dürfen so viel trinken, wie und wann sie wollen."
Alles erlaubt
Diese Aufzuchtmethode hat einen technischen Fachbegriff: muttergebundene Kälberaufzucht. Klingt selbstverständlich, ist aber in Österreich außergewöhnlich, wo es üblich ist, dass Mutterkuh und Kalb am Tag nach der Geburt getrennt werden. Das Kalb würde sonst einen Großteil der Milch wegtrinken, der für den Verkauf bestimmt ist. Zudem argumentieren viele Landwirte mit Platzproblemen, weil Kuh und Kalb einen eigenen Bereich im Stall brauchen würden.
Rein rechtlich betrachtet wird in Bezug auf das Trennen von Kind und Mutter nichts vorgeschrieben. Alles ist erlaubt. Und das, obwohl viele Konsumenten in Umfragen angeben, vor allem aus Tierschutzgründen auf Milchprodukte zu verzichten.
80 Kilometer entfernt fressen die Fleckviehkühe das satte Frühlingsgrün, umringt von ihren sieben Kälbern. Hier am Rande des Wienerwaldes können Städter nicht nur am Bauernleben teilhaben und mithelfen. Gertraud Magritzer führt die Konkurrenz – interessierte Landwirte – durch die Ställe ihres Auszeit-Bauernhofs, denn auch am Weinkirnhof läuft alles anders ab als im Rest des Landes.
Als die 55-Jährige den Weinkirnhof von ihren Eltern übernahm, fragte eine Freundin bei der Führung durch den Bauernhof, wieso denn die Kälber in einem Iglu und nicht bei ihren Müttern stehen dürfen. Dabei handelt es sich um ein kleines Zelt, das für das neugeborene Kalb ein sauberes, warmes Mikroklima schaffen soll. "Ich war einfach betriebsblind: Weil es alle so machen, habe ich es auch gemacht." Magritzer begann zu recherchieren: "In Österreich konnte ich damals niemanden fragen. Nur wenige deutsche Bauernhöfe lebten vor einem Jahrzehnt das Modell der Mutterkuhbindung."
Heute dürfen ihre Kälber drei Monate lang bei ihren Müttern bleiben. Die Jungtiere trinken in dieser Zeit 10 bis 20 Liter Milch pro Kalb und Tag: "Ein finanzieller Brocken", gibt doch eine Milchkuh in Summe 15 bis 30 Liter Milch am Tag.
Soziale Tiere
"Eine allgemeine Definition für die spezielle Kälberaufzucht gibt es nicht: Ob die Dauer des Beisammenseins oder auch, ob die Kälber erst nach dem Melken zur Mutter dürfen, kann sich unterscheiden. Man muss jedenfalls einen Vogel haben, wenn man als unternehmerisch handelnder Mensch das tut."
Im Jahr 2015 erregte eine Studie der österreichischen Wissenschafterin Susanne Waiblinger für viel Aufsehen, wonach eine frühe Trennung von Kuh und Kalb Spätfolgen für den Nachwuchs haben kann. Laut der Tierhaltungsspezialistin an der VetMed zeigte die Untersuchung, dass eine reichhaltigere soziale Umwelt in der Aufzucht, also mit Kontakt zur Mutter und anderen Kühen, die Tiere langfristig zu sozial kompetenteren erwachsenen Rindern macht.
"Es ist eine Herzensangelegenheit, wenn man sieht, wie die Mütter mit den Kindern unterwegs sind. Diese Kälber haben ein anderes Herdenverständnis als Kälber, die von ihren Müttern getrennt wurden", stimmt Magritzer zu.
Eigene Käserei
Neben dem Tierwohl-Aspekt gibt es noch weitere Argumente wie eine Zeitersparnis im Alltag der Landwirtin, denn die Kälber müssen nicht gefüttert werden. "Da sich die Kälber gut entwickeln, gibt es zudem einen guten Preis für die Kälber, das muss man am Ende gegenrechnen, wenn man es rein rechnerisch betrachten will", so Magritzer.
Für das Ehepaar Rögner wiederum kommt ein Verkauf ihrer Jungtiere überhaupt nicht infrage: "Die weiblichen Tiere werden wieder Milchkühe. Die männlichen Jungtiere dürfen zwei Jahre auf dem Tetzenberg verbringen, bis wir sie selbst zum Schlachthof bringen – das kann schon mal zwei Stunden dauern, weil sie scheu wie Katzen sind, aber das bedeutet weniger Stress für die Tiere. Was viele Vegetarier nicht bedenken: Wenn man Milch will, kommen natürlich auch männliche Tiere zur Welt."
Das Fleisch verarbeitet das Ehepaar selbst weiter, die Milch wird in der Hof-eigenen Käserei verkäst – die Produkte gibt es dann im Hofladen: Die Oma-Kuh ist ein neues Projekt: Der Fleisch-Verkauf ihrer alten Milchkühe: Milchkühe werden im Schnitt in einem Alter von 6,5 Jahren geschlachtet. Rögners älteste Milchkuh, Lisa, ist 17 Jahre alt. Am begehrtesten seien Lungenbraten, besonders preissensibel seien die Kunden hingegen beim Rostbraten – mehr als 25 Euro pro Kilogramm sei der Fleisch-Konsument nicht bereit zu zahlen.
Gottfried Rögners Rebellentum hat einst mit einem Disput begonnen: "Jene Molkerei, mit der ich zusammengearbeitet habe, wollte von einem auf den anderen Tag die Milch nicht mehr vom Hof abholen. Stattdessen hätte ich die Milch zu ihren gewünschten Zeiten an einen Abholort auf ihrer Route stellen müssen." Also begann der Landwirt mit dem Käsemachen und da das "Kasgeschäft" so gut lief, hat er die Molkerei nicht mehr gebraucht. Derzeit gibt es neun Varianten ihres Frisch- und Hartkäses – der Rotschmierkäse fühlt sich im früheren Weinkeller besonders wohl.
"Wenn wir den Frischkäse nicht verkaufen, liefern wir ihn an die Bauern-Greißlerei Obersdorf – dann wird absolut nichts verschwendet." Ein Liter Milch kostet an ihrem Milchautomaten 1,30 Euro.
Gütesiegel
Im Durchschnitt trinkt der Österreicher ein Glas Milch am Tag – Produkte wie Käse und Joghurt sind nicht eingerechnet. Für Milchprodukte geben die heimischen Konsumenten mehr aus als für Milch: 18 Euro bezahlt der Verbraucher pro Kopf im Monat für Käse sowie acht Euro für Milch. Der Selbstversorgungsgrad liegt bei 177 Prozent: Die heimischen Landwirte produzieren also mehr, als im Land konsumiert wird.
Auf beiden Höfen werden die Kühe zweimal am Tag gemolken, Magritzer liefert ihre Milch jedoch an die Berglandmilch-Molkerei. Ihre Milch mit Mehrwert landet also am Ende in der gleichen Milchkanne wie jene von herkömmlichen Bauernhöfen. Warum sich nicht mit Gleichgesinnten zusammenschließen: Milch und Milchprodukte unter einem eigens kreierten Gütesiegel verkaufen? "Das Kundeninteresse ist da, aber es gibt keine Bauern, die das in der Umgebung so machen wie ich."
Der Weinkirnhof produziert 60.000 Liter, das Ehepaar Rögner 40.000 Liter Milch im Jahr – damit eine Molkerei Interesse an dem speziellen Tierwohl-Modell zeigt, bräuchte es wohl 30.000 Liter pro Tag. "Das Thema müsste stärker promotet werden: Es bräuchte Kampagnen sowie Anreize für den Umstieg."
Tierwohl
Für Viktoria und Gottfried Rögner gehört noch viel mehr zum Umdenken: Ihre Kühe dürfen die Hörner behalten und sie sollen kein Kraftfutter bekommen. Genügend Heu auf ihren 25 Hektar im niederschlagsarmen Weinviertel gibt es für ihre Tiere zwar nicht, aber sie tauschen mit anderen Landwirten ihren Biomist gegen Heu.
Wenn die jährliche Aufstellung – eine Rangliste – veröffentlicht wird, welche Höfe im Bezirk am meisten Liter Milch abgeliefert haben, gehören sie stets zu den Letztplatzierten: "Wenn andere Parameter wie Lebensalter und Tierwohl einfließen würden, wären wir oben. Aber so leben wir wie unter einer Käseglocke."
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