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Leeres-Nest-Syndrom: Wie Michelle Obama eine Lanze für ein sensibles Thema brach

Die frühere First Lady der USA hat offenbart, dass sie in Therapie ist - um sich in ihrer neuen Rolle zurechtzufinden - als Empty Nester. Warum es wichtig ist, den Auszug der Kinder gut zu verarbeiten.

Manchmal, nur manchmal, wenn das Kind wieder mit der Tür geknallt hat, der Bass aus dem Kinderzimmer das ganze Haus zum Vibrieren brachte oder man zum 500. Mal bitten musste, die Teller gleich in den Geschirrspüler zu räumen, hat man es sich vielleicht vorgestellt. Die vermeintliche Leichtigkeit, wenn das Kind eines Tages in seiner eigenen Wohnung lebt und endlich Ruhe einkehrt.

Doch als der Moment dann kam, fühlte es sich ganz anders an. 

Das hat nun auch die frühere US-First Lady Michelle Obama festgestellt, nachdem ihre Töchter Malia (26) und Sasha (23) flügge geworden sind. „Ich bin ein leerer Falter“, sagt sie im Interview mit Jay Shetty in dessen Podcast On Purpose. Und sie ergänzt: „Ich bin deswegen in Therapie. Ich glaube an die Kraft, die darin liegt, seine Herausforderungen mit anderen Menschen zu teilen, denen man vertraut.“

©REUTERS/Reuters/Joshua Roberts

Die Wiener Psychotherapeutin Béa Pall vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie begrüßt es sehr, dass sich so eine bekannte Frau öffentlich zu diesem Thema äußert. Denn die 60-jährige Michelle Obama bricht damit nicht nur eine Lanze für Therapie im Alter – sondern auch für einen sensibleren Umgang mit dem sogenannten „Empty Nest Syndrome“. 

Einsamkeit im Alter

Diesen Begriff prägte die Amerikanerin Dorothy Canfield bereits 1914, um Mütter zu beschreiben, die unter Depressionen leiden, wenn ihre Kinder ausziehen. So richtrig populär wurde er dann in den 1950er-Jahren. 

Einsamkeit kann jeden von uns jederzeit treffen – und neue Untersuchungen zeigen, dass dieses Problem bei Menschen über 50 immer häufiger auftritt. 

Die Aufmerksamkeit Kindern gegenüber ist in den vergangenen 25 Jahren stark gestiegen“, sagt Psychotherapeutin Béa Pall. Wenn Kinder heute ausziehen, kann das also eine dramatischere Auswirkung auf die psychische Gesundheit haben.

Psychotherapeutin Béa Pall

Psychotherapeutin Béa Pall

©Privat

Es ist viel, wenn ein geliebtes Familienmitglied plötzlich nicht mehr unter dem gleichen Dach wohnt. Dazu kommen die Sorgen: Wird es dem Kind gut gehen? Ist es sicher? Wird es dem Stress der Erwachsenenwelt gewachsen sein? Aber da ist oft noch mehr, eine Leere – nicht nur im Außen, in Form eines verlassenen Zimmers, sondern auch im Inneren: Denn das Mutter- oder Vatersein ist Teil der eigenen Identität; ein Teil, der nun vermeintlich weniger gebraucht wird.

„Zum ersten Mal“, sagt Michelle Obama im Interview, „ist jede Entscheidung, die ich treffe, jetzt ganz meine.“ Sie habe nicht länger die Ausrede: Ihr Mann oder ihr Land brauche dieses, ihre Kinder jenes.

Statistik

Laut Eurostat ziehen die Österreicher im Schnitt mit 25,3 Jahren bei den Eltern aus, damit liegt man unter dem EU-Schnitt von 26,4 Jahren.

Vor allem Töchter ziehen immer später aus. Während 2012 noch 55,2 Prozent der 20- bis 24-jährigen Frauen zuhause bei den Eltern, waren es im Vorjahr schon rund 58 Prozent. Von den Männern waren es fast 67 Prozent, deren Anteil sank über die Jahre leicht. 

Wie also umgehen mit dieser Trauer, diesem Verlust? „Es ist im Leben immer wichtig, sich nicht nur auf eine Rolle zu konzentrieren“, sagt Béa Pall. „Gerade für Frauen ist es wichtig, eine Ich-Stärke zu entwickeln. Zu erkennen: Ich bin nicht nur Mutter, sondern auch Freundin, Partnerin und vor allem, ich selbst. Sie sollten sich überlegen: Was macht mir Freude? Welche Hobbies bringen mir Spaß?“ 

Natürlich ist das aus sozioökonomischen Gründen nicht immer möglich. Besonders Alleinerziehende fehlen oft Zeit, Mittel und gesellschaftliche Unterstützung, um weitere Rollen zu etablieren. Umso wichtiger ist es, in dieser Zeit sanft mit sich selbst umzugehen.

Daughter kissing her mature mother on the cheek
©Getty Images/Prostock-Studio/istockphoto

„Bei Frauen fällt der Auszug der Kinder aber auch häufig mit der Menopause zusammen. Das sind viele Veränderungen, psychische und physische, die viel abverlangen.“ Dafür darf man sich Raum geben. Um die Situation zu verarbeiten. Um darüber zu sprechen. 

Männer leiden noch mehr im Stillen

Das gilt besonders auch für Väter. „Leere Nester sind schmerzhafter für Männer“, schrieb der englische Journalist Brian Viner in der Daily Mail, als sein Sohn Jacob für sein Studium 130 Kilometer weit wegzog. „Mütter haben Freunde, denen sie ihr Herz ausschütten können... Männer müssen im Stillen leiden.“ Dass veraltete Klischee des harten Mannes, wird auch in diesem Punkt klar, sollte endgültig über Bord geworfen werden. 

Und was kann man als Außenstehende tun? Zuhören und zusprechen, sagt Béa Pall. „Es bringt nichts zu sagen: ,Aber schau, jetzt hast du so viel Zeit' oder ,Jetzt musst du endlich nicht mehr jeden Tag kochen‘. Dann fühlt sich die Person doppelt schlecht.“ Wichtiger sei es, sie zu bestärken: „Du hast das gut gemacht. Du hast Ungalubliches geleistet. Und was könntest du jetzt Neues entdecken?“

Denn das Leben ist vielfältig, erinnert die Psychotherapeutin. „Es bietet einem immer etwas – man muss nur hinschauen.“

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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