Audrey Diwan über "Das Ereignis“: „Provokation interessiert mich nicht“
Ein Interview mit Audrey Diwan, die das Buch von Annie Ernaux über Abtreibung verfilmte und in Venedig den Goldenen Bären gewann.
Langsam fällt es auf. Immer mehr Frauen räumen auf großen Filmfestivals die Hauptpreise ab. Nachdem die Goldene Palme in Cannes letztes Jahr an die Französin Julia Ducournau ging, gewann gleich darauf Audrey Diwan den Goldenen Löwen in Venedig.
Audrey Diwans „Das Ereignis“ basiert auf den Erinnerungen der französischen Bestsellerautorin Annie Ernaux, die 1963 als Schülerin schwanger wurde und abtreiben wollte, um ihre mühsam erkämpften Ausbildungsmöglichkeiten nicht zu gefährden. Abtreibung war damals in Frankreich illegal. Das zwang die junge Frau, sich einer Reihe demütigender und lebensgefährlicher Prozesse zu unterziehen.
Auch für Diwan, französische Regisseurin mit libanesischen Wurzeln, wurden die peinigenden Erinnerungen von Ernaux persönlich: „Ich selbst ließ eine Abtreibung vornehmen und wollte mich in diesem Zusammenhang mehr mit der Thematik beschäftigen“, erzählt die zweifache Mutter dem KURIER.
„Als ich Annie Ernauxs Aufzeichnungen las, wurde mir deutlich, was es bedeutete, eine illegale Abtreibung vorzunehmen. Mir war davor nicht klar, welche Gewalt mit dem Prozess einherging. Aber es macht einen gewaltigen Unterschied aus, in einem Land zu leben, wo Abtreibung legal ist. Man wird von Ärzten begleitet und muss sich nicht auf einem Küchentisch mit Nadeln behandeln und sein Leben riskieren. Ich war sehr berührt von Annie Ernaux’ Entschlossenheit, für ihre Freiheit zu kämpfen. Aber es hat mich auch persönliche Wut angetrieben.“f
In ihrem nüchternen, manchmal allzu schlicht erzählten Coming-of-Age-Drama folgt Audrey Diwan einer Schülerin namens Anne, kühn und unbeirrt gespielt von Anamaria Vartolomei.
Anne stammt aus bescheidenen Verhältnissen und hat die Möglichkeit, auf der Universität zu studieren. Die ungewollte Schwangerschaft stellt eine profunde Gefährdung ihrer Zukunft dar, der bürgerliche Kindsvater stellt sich dumm. Anne landet schließlich bei einer Frau, die heimlich Abtreibungen vornimmt.
Die Prozedur erweist sich nicht nur als überaus quälend, sondern auch lebensgefährlich und wird von Diwan mit kühler Präzision in all seiner Schmerzhaftigkeit gezeigt: „Ich wollte nicht provozieren, das interessiert mich nicht. Aber ich wollte auch nicht wegschauen, sondern klar die Perspektive der jungen Frau einnehmen.“
Slutshaming
Als Anne ihren Freundinnen von der Schwangerschaft erzählt, ist es mit der moralischen Verurteilung – dem sogenannten „Slutshaming“ – für ihr sexuell aktives Verhalten nicht weit.
„Diese Reaktionen finden wir heute noch ganz genauso, etwa in den sozialen Medien“, empört sich Diwan: „Warum ist ein Mädchen, das Sex hat, eine ,Schlampe‘? Diese Vorstellung ist durch unsere Erziehung einfach immer noch stark in unseren Köpfen zementiert.“
Im Zuge der Drehvorbereitungen traf sich Audrey Diwan übrigens mit der mittlerweile 81-jährigen Annie Ernaux und befragte sie nochmals zu ihren persönlichen Erlebnissen: „Als wir auf die Abtreibung zu sprechen kamen, sah ich Tränen in ihren Augen. Im Alter von über 80 Jahren konnte sie immer noch den Schmerz fühlen, den ihr Körper damals empfunden hat.“
INFO: F 2021. 100 Min. Von Audrey Diwan. Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein.
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